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Salz im Kaffee

 

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1.

 

Die Zeit fliegt vorbei, ohne daß ich es wirklich zur Kenntnis nehme. Trotzdem, das Gefühl für Zeit habe ich noch nicht gänzlich verloren. Langsam, schleppend, kriechend kehrt die Erinnerung zurück. Richtig, heute ist der vierundzwanzigste. Zugegeben, ich hätte es beinahe vergessen, aber eben nur beinahe.

Blick auf das Meer. Von dort weht eine warme Brise, die auf meiner Seele Klavier spielt. Der Mond spiegelt sich auf der Wasseroberfläche, Vollmond, der dieses kalte, metallische Glitzern auf dem Wasser erzeugt.

Der vierundzwanzigste. In Deutschland setzt er einen Großteil der Bevölkerung schon Wochen vorher in hektische Bewegung, die dann in einem alles erlösenden Halleluja mündet. Zunächst langsam, dann mit wachsender Geschwindigkeit weiten sich die Herzen der Menschen. In aller Regel umgekehrt proportional zum schwindenden Umfang der Brieftaschen. Am vierundzwanzigsten kehrt schließlich schlagartig eine ungewohnte Ruhe ein, wie sie in schwedischen Kleinstädten an verregneten Sonntagmorgenden kaum größer sein könnte.

Wieviel doch an einem einzigen Datum hängen kann.

Die Jungs sitzen in der Ecke, spielen Karten. Der Schuster repariert weiter im Schein der Paraffinlampe seine Schuhe. Es scheint hier keinen so recht zu interessieren, welches Datum der heutige Tag hat. Mein Blick schweift über Gesichter, die aus fröhlichen Augen keine Notiz von derlei Ereignissen nehmen. Schaue dem Treiben auf der Straße zu. Hektisch, und doch beruhigend langsam.

 

Die ersten Steine flogen. Aus der Menge löste sich eine Gruppe mit Motorradmützen Vermummter, die wie auf Kommando auf den Polizeicordon losstürmten. Ein Steinehagel prasselte auf die Plastikschilde nieder. Ebenso schnell wie sie sich formiert hatte, zerstreute sich die Gruppe wieder und tauchte in der Menge unter.

 

Frauen in schwarzen Gewändern, die meist auch das Gesicht verhüllen, eilen an mir vorbei. Erledigen noch ein paar Einkäufe in den kleinen Läden, die kaum größer als eine Zeitungsbude sind. Ohne Hektik, die wenigen Dinge, die es in den kleinen Geschäften gibt, sind rasch eingekauft. Ab und an springen die Passanten beiseite, wenn einer der Handkarren, die mit Not durch die engen Gassen passen, in hohem Tempo vom Markt oder auf dem Weg dorthin durch die Menge getrieben wird. Kleinere Unfälle bleiben nicht aus, werden aber zumeist von den Umstehenden gelassen hingenommen. Die Sturheit der Grauen, von denen es in den engen Gassen nur so wimmelt. Die Jungen tun ihr bestes, um den kleinen Eseln ihren Willen aufzuzwingen. Größere Karambolagen werden oft nur dadurch verhindert, daß die Gütertransporte schon aus der Ferne lauthals angekündigt werden.

 

Verdammt, jetzt komm endlich, schrie sie auf ihn ein. Das Getrampel der rennenden Masse schwoll immer lauter hinter den beiden an. Aus der Ferne ertönte die immer gleiche Parole. Eins, zwei, drei, scheiße Polizei.

Fensterscheiben klirrten, direkt neben ihnen brach eine ganze Schaufensterfront zusammen, als hätte jemand eine Reihe Dominosteine angestoßen. Andreas hatte keine Ahnung, wer sich diesen Spruch ausgedacht hatte. Die Botschaft war deutlich, der Sinn eher fragwürdig. Sie riß ihn am Ärmel.

Los jetzt, vielleicht können wir über die Ringe. Sie zerrte ihn in eine Seitenstraße.

 

Ich bin auf der Flucht. Immer noch, nach all den Jahren, nach fast vier Jahren. Warum es mich jetzt gerade hierher verschlagen hat? Keine Ahnung.

Ich setze mich auf eine der Steinbänke, sehe dem Treiben zu, atme tief und regelmäßig. Der Geruch von gegrilltem Fleisch liegt in der Luft. Der kleine Grillstand in der Ecke gegenüber wird durch die glühenden Kohlen nur spärlich erhellt. Behende spießt der Stämmige mit der Plastikschürze hinter dem Grill, dem man ansieht, daß ihm seine Fleischspieße ebenso gut munden, wie seiner Kundschaft, die Fleischstückchen auf kleine Spieße, die, wie ich bald herausfinde, bereits ein langes Leben hinter sich haben.

Not macht erfinderisch, heißt es. Daß es sich bei den Metallstäben um den zweckentfremdeten Teil eines Zweirades handelt, erkennt man eigentlich nur noch an dem umgebogenen, abgeflachten Endstück, das die Fahrradspeiche einmal zwischen Nabe und Felge gehalten hat. Die Vorstellung, daß an ihnen statt des Speiseöls, mit dem der Mann sie immer wieder gewissenhaft einreibt, einmal Motorenöl und Staub geklebt haben mag, läßt mich einen Augenblick zögern. Schließlich lege ich doch wortlos mein Kleingeld neben den Grill, wähle drei von den fertigen Spießen auf dem Häufchen aus und lege sie nochmals zurück auf das Feuer. Ich verzichte auf die Chilisauce. Mir läuft der Schweiß ohnehin schon in kleinen Rinnsalen über das Gesicht.

 

Das Geräusch der rennenden Massen verebbte langsam.

Ich kann nicht mehr, keuchte Andreas.

Lisa drehte sich im Laufen um, jetzt komm, es ist nicht mehr weit.

Hier spricht die Polizei, tönte es in der Ferne aus einem Megaphon.

Die sind auch nicht schlauer, ging es Andreas durch den Kopf. Das beruhigte ihn. Als ob jemand etwas anderes als einen Bullen hinter einer grünen Uniform, die mit einem Schlagstock bewaffnet ist, vermuten könnte.

Haben sich die richtigen gefunden, dachte er laut. Lisa fragte irritiert:

Wer? Sie bekam keine Antwort. Wer hat sich gefunden, wiederholte sie ihre Frage. Andreas antwortete immer noch nicht. Er hing schon wieder seinen Gedanken nach. Hier spricht die eins, zwei, drei Scheiße Polizei, schoß es ihm durch den Kopf.

 

Einer der wenigen Flecken der Erde, auf dem es noch keinen McDonalds gibt. Auch die kleinen Grillstände gegenüber, die zumeist nur aus einer kleinen Holzkiste bestehen, haben recht wenig mit einem Fastfoodimbiss westlicher Prägung gemein. Wem danach ist, der kann sich an einem der anderen improvisierten Grillbuden, mit einer Art Bratkartoffeln, Maisfladen und anderen Leckereien eindecken, um die Mahlzeit mit Magenfüllenderem anzureichern. Mir genügen für heute die Spieße. Kein Festtagsbraten, aber das Fleisch ist trotzdem lecker. Mir ist jetzt schon klar: Der kleine Grillstand wird in den nächsten Tagen einen weiteren Stammkunden hinzugewinnen.

Ich kehre an meinen Platz auf der Steinbank zurück, setze mich und beobachte gespannt das Geschehen. Immer wieder bleiben Leute vor dem kleinen Straßenrestaurant stehen, wechseln ein paar Worte mit dem Herrn hinter dem Grill oder den Alten hinter ihren Holzkisten. Man kennt sich. Das hektische Treiben hält so noch eine ganze Weile an. Inzwischen steht der Mond fast senkrecht über der Stadt und taucht alles um mich herum in ein weisliches, unwirkliches Licht. Die Diskussionen über den noch nicht ganz beendeten Tag gehen in ein einziges Rauschen über, in dem die einzelnen Stimmen untergehen. Übrig bleibt ein einlullendes Stimmengewirr.

 

Lisa zerrte Andreas in einen Hauseingang. Die Rufe der Demonstranten drangen nur noch vereinzelt zu den beiden herüber. Deutschland muß sterben damit wir leben können. Auch diese Parole, die für einen Moment den Tod des Systems beschworen hatte, erstarb. Völlig verkennend, wie langlebig dieses System doch war. Auch damals hatte es nichts geholfen, den Massen zuzurufen: Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen. Millionen waren gestorben. Sieben Jahre später war auch das Deutsche Reich tot gewesen.

 

Immer wieder verschwinden Männer in einer unscheinbaren Türe einige Häuser weiter, vor der bereits eine ansehnliche Sammlung Schuhe und Plastiksandalen aufgereiht ist. Ich versuche, von meinem Platz aus einen verstohlenen Blick in die Räumlichkeiten zu werfen. Neige meinen Kopf etwas zur Seite, um durch den Türspalt einen Eindruck des Inneren zu erhaschen. Als der nächste Besucher die schwere Türe ein wenig weiter öffnet, erkenne ich, daß es sich bei dem unscheinbaren Haus, daß nur aus einer großen Halle zu bestehen scheint, um eine Moschee handelt. Im Inneren kniet bereits eine Anzahl Männer, den Oberkörper weit vornüber gebeugt, auf dem Steinfußboden des schmucklosen Saales. Kein Minarett, von dem der Muezzin seine Gebete ausruft, nur ein einfacher, großer Raum.

Andere Männer sitzen neben mir auf der Steinbank, haben das allabendliche Gebet offensichtlich bereits hinter sich. Deren zerfurchte Gesichter, gegeerbt von der jahrzehntelangen Sonnenbestrahlung.

Weitere endlose Minuten vergehen, bis der Schuster gegenüber seine Türen schließt. Es dauert noch eine Zeit, bis die schweren Holzbalken von innen vor die Türe geschoben werden und auch das Licht hinter den Türen verlischt. Seltsam, wie er wohl den Laden verlassen mag, ob überhaupt?

Die Worte kriechen schleppend aus mir heraus, als hätten sie keine Eile. Sie haben sich anstecken lassen von der Trägheit dieser Insel. Hier geht das Leben um so vieles langsamer. Die Stunden verrinnen, ohne daß ich es zur Kenntnis nehme. Satz für Satz, Stunde für Stunde. Schließlich ist es ruhig. Die meisten Lichter sind erloschen, die kleinen Läden, in denen es alles Nötige zu kaufen gibt, schließen einer nach dem anderen ihre Türen. Das geschäftige Treiben, daß noch vor wenigen Stunden meinen Puls hat höher schlagen lassen, verebbt in den Fluten des Mondes.

 

Komm, flüsterte sie, zog den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Haustüre. Im Flur war es dunkel. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht, das durch die kleinen Fenster, die es auf jedem Treppenabsatz gab, drang. Unsicher tastete er an der Wand nach einem Lichtschalter. Lisa erklärte ihm: Das tut’s schon lange nicht mehr. Sie nahm ihn bei der Hand und noch völlig außer Atem stiegen sie die Stufen aus billigem Marmorimitat nach oben. Andreas zählte in Gedanken die Etagen.

Lisa die Stufen. Rückwärts. Vierundneunzig, einen Aufzug gab es nicht. Aber Aufzüge erzeugten bei ihr sowieso immer ein Gefühl der Beklemmung, weshalb sie, auch wenn es einen Aufzug gegeben hätte, lieber von vierundneunzig bis null gezählt hätte, als darauf zu warten, daß die Fahrstuhlanzeige auf die nächst höhere Etage spränge. Sie liefen an unzähligen Klingelschildchen vorbei, dann wieder Türen ohne jeglichen Hinweis auf diejenigen, die hinter der Türe wohnten. Schließlich waren sie am Ende des Treppenhauses angekommen. Von hier aus führte nur noch eine schmale Holztreppe weiter nach oben. Durch ein Dachfenster drang schummriges Licht. Lisa ließ Andreas Hand los.

Paß auf, die ist verdammt steil.

Oben angekommen griff sie in einen Blumentopf, dessen pflanzlicher Inhalt, wohl aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse, einen etwas armseligen Eindruck erweckte, und zog einen weiteren kleinen Schlüsselbund unter dem welken Grün hervor. Eine Vorsichtsmaßnahme, zu der sie sich nach dem letzten Anruf beim Schlüsseldienst entschlossen hatte, da dessen Arbeitslohn sich fast mit dem Wert ihrer Wohnungseinrichtung gedeckt hatte. Klack, klack, klack. Der Balken des Türschlosses bewegte sich mit jedem Klacken und jeder Drehung des Schlüssels ein Stückchen weiter zurück, bis die Türe nach innen aufsprang.

Komm rein, lud sie Andreas ein. Das war leichter gesagt als getan. Ihn erwartete eine Flut von diffusem, milchig-grünem Licht und ein Urwald aus Zimmerpflanzen, durch den man sich nur mühevoll hindurchkämpfen konnte. Zwei Zimmer, eine kleine Küche und in den an den fensterlosen, düsteren Flur angrenzenden Zimmern endlos viel Licht, daß durch die großen Dachfenster in die kleine Wohnung fiel. Die Luft war feuchtschwül. Andreas brach der Schweiß aus.

 

Es wird Zeit, in mein kleines Zimmer zurückzukehren. In den engen Gassen ist die Luft immer noch stickig. Gerüche wechseln sich ab wie in einer Duftmaschine, mit der findige Wissenschaftler seit Jahrzehnten versuchen, das Fernsehen zu perfektionieren. Warum ihnen dies nicht gelingt, wahrscheinlich nie gelingen wird, muß einem hier klar werden. Der Duft von getrockneten Nelken, Kardamom und anderen Gewürzen übertüncht immer wieder den streng in der Nase beißenden Geruch aus den offenen Abwasserkanälen, die in endlosen Mäandern ihren Weg durch die Stadt zum Meer suchen. Von dort weht ein seichte Brise, die den Geruch salzigen Meerwassers in die Stadt zurückspült und der sich dort auf eine kaum beschreibliche Art und Weise ausbreitet.

Ich suche meinen Weg durch das Labyrinth der spärlich beleuchteten Gassen, immer darauf bedacht, nicht mit meinen offenen Schuhen in eines der Abwasserkanälchen oder in den Eselskot zu treten. Nach gut einer halben Stunde Wanderung mit zu Boden geneigtem Kopf muß ich mir eingestehen, daß ich den Weg nach Hause verloren habe und in einer Ecke des Städchens gelandet bin, die mir bis dato völlig unbekannt gewesen ist. Um mich herum ist es totenstill, selbst das Rauschen des Ozeans ist kaum noch zu hören, was mir zumindest zeigt, daß ich wohl schon recht weit den sanft ansteigenden Hügel hinauf geklettert sein muß, an den sich die Stadt schmiegt.

Ich setze mich auf die Stufen eines Hauseingangs, neben dem durch ein Fenster ein wenig Licht auf die Gasse fällt, starre auf eines der Rinnsale vor mir, und versuche mir vergeblich im Spiel des Wassers das Bild des Stadtplans, den ich sinniger Weise in meiner Unterkunft habe liegen lassen, ins Gedächtnis zurück zu rufen. Ein sinnloses Unterfangen, wie mir sehr bald klar wird, denn Straßennamen, an denen ich mich orientierne könnte, gibt es hier praktisch nicht. Auch von den übrigen Orientierungsmarken, die bisher meine Wege durch die Stadt bestimmt haben und zu denen zum Beispiel der Marktplatz gehört, ist keine einzige in Sicht.

Meine Gedanken verselbständigen sich, beginnen um sich selber zu rotieren, werden von den sie umgebenden Gerüchen betäubt. Offene Kanäle, die in endlosen Mäandern ihren Weg durch die Stadt zum Meer suchen, wiederholen in meinem Kopf die Bilder und Eindrücke des Tages.

... sich ihren Weg zum Meer suchen. Ich springe auf, folge blind dem Lauf des Wassers. Bereits nach wenigen Minuten erreiche ich wieder das südliche Ende des Hafens, laufe an der Kaimauer entlang, gelange schließlich zu dem Restaurant, an dem ich auch sonst immer abbiege, die nächste Straße nach rechts ist die um wenige Zentimeter breitere, auf meinem Stadtplan als Hauptstraße verzeichnete Gasse, an dem Geschäft mit der vermutlich einzigen Neonreklame der Stadt wieder nach links und nach wenigen Metren stehe ich tatsächich vor der richtigen Haustüre.

 

Willste ‘n Kaffee, fragte Lisa.

Klar warum nicht. Andreas ließ sich auf einer der Matratzen, die zu einer Art Sofa zusammengeschoben waren, nieder. Sie verschwand in der kleinen Küche, aus der nach kurzer Zeit das kratzende Geräusch einer Maschine ertönte, das Andreas entfernt an seine Besuche beim Zahnarzt erinnerte. Die Kaffeemühle hatte sich Lisa zugelegt, nachdem sie herausgefunden hatte, daß es nur wenige Straßen weiter das gab, was man früher einen Kolonialwarenhändler genannt hätte. Sie war sich sicher, daß sowohl der kleine Laden als auch dessen Besitzer, der bestimmt schon an die siebzig sein mochte, aus genau jener Zeit stammte, in der man ein Kaffeegeschäft noch nach der politischen Weltwirklich keit benannt hatte. Irgendwann mußte aber wohl auch der Alte, dem Zug der euphemisierenden Sprachentwicklungen folgend, sein Geschäft in Bielmanns Teeladen umbenannt haben, was, wie Lisa fand, nur unzulänglich das Warenangebot aus den verschiedensten Kakaosorten, Gewürzen, und Tees - und eben frischen Kaffeebohnen - umschrieb.

Der Duft der frisch gemahlenen Kaffeebohnen stieg Andreas in die Nase. Früher hatte er Kaffee eigentlich nie gemocht. Der bittere Geschmack zog ihm alles im Mund zusammen.

Milch? Zucker?

Schwarz!

Irgendwann hatte Andreas doch angefangen ihn zu mögen, weniger wegen des Geschmacks sondern eigentlich, weil es so gut roch, wenn man den Kaffee kochte.

 

Ich sauge die frische Meeresluft in mich hinein. Es ist noch früh am Morgen. Ein neuer Morgen. Die Sonne verbrennt mir noch nicht erbarmungslos das Gehirn. Hatte ich an den letzten Tagen den Ruf des Muezzins überhört, war ich heute schon vor ihm wach. Mit dem Ruf des Muezzins beginnt langsam das Leben in der Stadt. Ich habe Kaffee aufgesetzt. Setze mich auf eines der Kissen auf der Veranda, blicke auf den Ozean. Mir fällt auf, daß ich jetzt schon seit drei Tagen hier bin und noch nicht ein Mal am Strand war, noch nicht einmal zum Schwimmen, was man natürlich theoretisch auch im Hafenbecken kann. Das ist hier zumindest wesentlich sauberer, als in den Häfen der meisten Hafenstädte Europas. Und so nutzen auch viele Kinder aus der Stadt die Kaimauern für einen Sprung ins kühle Naß.

Sandstrand findet man dagegen erst nach einem gut einstündigen Fußmarsch. Es ist zwar mit etwas Aufwand verbunden, aber er rechtfertigt nicht, diesen Teil der Insel auszusparen. Für die Fußfaulen, zu denen ich mich durchaus auch zähle, fahren Boote im Zehnminutenrhythmus, und es dauert keine zwanzig Minuten bis zum Strand. Trotzdem war es mir in den letzten Tagen bereits morgens um elf zu spät erschienen, um noch diese, im Vergleich zu der Wanderung geradezu lächerliche Anstrengung auf mich zu nehmen.

Das Kaffeewasser kocht. Es vermischt sich mit dem Instantkaffee zu einer seltsam trüben, braun-schwarzen Suppe, auf deren Oberfläche sich hellbraune Schaumkronen bilden, als ich das Wasser aufgieße. Irgend etwas ist anders an diesem Kaffee, stelle ich fest. In all den Jahren hat sich mein Kaffeekonsum und damit auch das Gefühl für die verschiedenen Kaffeearomen doch merklich erhöht. Und ich muß eingestehen, es ist durchaus etwas dran, an der Werbung für Jacobs Krönung. Zumindest insofern, als ich vollkommen mit Herrn Jacobs einer Meinung bin, daß Kaffee nicht gleich Kaffee ist. Jacobs Krönung mag ich deshalb allerdings auch überhaupt nicht, bekomme ich Magenschmerzen von.

Instantkaffee mag ich eigentlich auch nicht. Aber nachdem ich einige Sorten durchprobiert habe - frischer Kaffee ist seltsamerweise in diesem Land, aus dem der Kaffee eigentlich stammt, rar - also, nach eingehender Prüfung der Instantkaffees bin ich zu dem Schluß gelangt, daß es auch unter diesen einige mit sehr gutem Aroma gibt. Meine bevorzugte Marke ist auf der Insel zwar nicht erhältlich, aber auch der Instantkaffee, zu dem ich schließlich gegriffen habe, schmeckt mir immer noch weit besser als Jacobs.

Am Instantkaffee konnte es auf jeden Fall nicht liegen, der seltsame Geschmack. Nein, es schmeckte nicht nach billigem Kaffee, es schmeckt, und es dauert eine Weile bis man dahinter kommt, nach Salz.

 

Scheißbullen, rief sie aus der Küche. Knüppeln einfach drauf los. Sie kam mit der Kaffeekanne und zwei Kaffeetassen ins Zimmer. Aber uns bekommen sie da nicht raus.

De facto hatten sie es schon geschafft. Die Emilienstraße war heute geräumt worden. Für Monate war sie Lisas und Andreas’ zweite Heimat gewesen. Zufluchtsstätte für so viele, ein rechtsfreier Raum sagten die einen, ein rechtloser die anderen, in deren Augen die Emilienstraße ein Ort war, an dem das Chaos einer Gruppe verwahrloster Drogenabhängiger regierte.

 

You want some stuff, quatscht mich einer der Boys auf dem Weg zum Boot an. Klar, worum es geht. Ich stelle mich trotzdem blöd. Was für Zeug, frage ich zurück. Marihuana, Grass, good stuff, erklärt er mir, was ich ohnehin schon weiß. Ich habe vor Jahren das Rauchen drangegeben. Nicht Zigaretten, natürlich, da kämpfe ich immer noch mit, aber mit Haschisch lockt mich heute kaum noch einer hinterm Ofen vor. Ich zögere trotzdem. Überlege zwei Sekunden, sich mal wieder so richtig die Birne zudröhnen, paßt gut zu meiner ohnehin schon etwas betäubten Stimmung. Ich entscheide mich schließlich doch dagegen.

Nee danke, ein anderes Mal.

OK, no problem, frag nach Captain Colour, wenn du was brauchst. Das Zeug haut mir jedes Mal ziemlich auf die Seele. In jeder Hinsicht. Wenn es mir gut geht, hebt es mich gleich noch zwei Stufen höher. Geht es mir beschissen, sacke ich ab in den Keller. Das merkt man dann allerdings nicht mehr unbedingt.

 

Lisa kramte mit der einen Hand in einer Ecke unter dem Sofa herum, in der anderen die Kanne und die Tassen. Schließlich brachte sie ein kleines Stück Stanniolpapier zum Vorschein.

Haste Bock, was zu rauchen? Andreas wußte, daß ihm das Zeug nicht echt bekam. Aber warum nicht. Hier, bau mal, sagte sie und warf ihm Tabak, Blättchen und das in die Aluminiumfolie eingewickelte kleine braune Stückchen, daß wie Lakritze aussah, zu. Gar nicht so leicht. Die überdimensionale Zigarette zusammenzurollen fiel Andreas schwer. Sie stellte den Kaffee auf ein kleines Tischchen und füllte vorsichtig die Tassen. Andreas reichte ihr die fertige Tüte rüber. Sie schob seine Hand zurück. Rauch du ruhig an. Das erste Streichholz ging aus, beim dritten fing das dünne Papier endlich Feuer. Andreas nahm einen tiefen Zug von dem Joint, hielt den Rauch Sekunden in der Lunge, bevor er ihn wieder ausstieß. Die mit dem Tabak vermengte Droge knisterte wie ein vertrockneter Tannenbaum, der Wochen nach Weihnachten verbrannt wird. Andreas versuchte mühsam, ein Husten zu unterdrücken.

Er reichte den Joint an Lisa weiter, nahm einen Schluck von dem Kaffee. In seinem Mund hatte sich ein seltsam trockenes Gefühl eingestellt, das er vergeblich durch die Zufuhr von Flüssigkeit zu bekämpfen versuchte. Gedankenverloren nahm er einen großen Schluck aus der Tasse, völlig vergessend, daß der Kaffee noch heiß war. Vor Schreck ließ er die Tasse fast fallen, fing sie im letzten Moment noch auf, konnte aber nicht verhindern, daß sich ein Teil des Inhalts über den Teppich ergoß. Der Kaffee brannte auf der Zunge wie Feuer.

Lisa lachte, und während Andreas noch beschämt auf den Kaffeefleck starrte, stand sie auf, sagte, is nicht so schlimm und lief in die Küche, um einen Lappen zu holen.

 

Ich frage mich, an wen die Boys am Strand um diese Uhrzeit schon das Dope verkaufen. Mir erscheint es noch entschieden zu früh für derlei die Sinne vernebelnde Geschäfte. Ich berausche mich an dem rötlich violetten Ball am Horizont, der noch nichts von der Hitze erahnen läßt, die er in einigen Stunden verbreiten wird. Einem Gasbrenner ähnlich, dessen bläulicher Flamme man die Hitze, die er erzeugt, kaum anzusehen vermag. Die Luft ist kühl und ich genieße das klare Gefühl in meinem Kopf, in dem sich meine Gedanken so mühelos sortieren.

 

Als sie zurückkam, fragte sie:

Sag mal, hast du die Nummer vom Infotelefon noch im Kopf.

Das Infotelefon war Teil der Vorbereitungen auf die anstehende Räumung gewesen. Für den Fall der Fälle. Die Direktverbindung zur ständig besetzten Kommandozentrale, von der nur die wenigsten wußten, wo sie sich befand.

Andreas wunderte sich immer wieder über das miserable Zahlengedächtnis anderer Leute. Adreßbücher und Terminkalender sah er nur als überflüssigen Ballast an.

Vier - drei - sieben - eins - zwo - eins.

Lisa wählte die Nummer, die ihr Andreas diktierte.

Wie kriegst du die in deinen Kopp rein, das ist doch echt ‘ne beschissene Nummer, die sich keine merken kann. Das die für solche Aktionen nicht das Telefon von jemandem mit ‘ner einfacheren Nummer benutzen können.

Andreas sah nicht, wo das Problem lag. Zu jeder Telefonnummer gab es doch einen Schlüssel, manchmal mußte man zwar etwas länger drüber nachdenken, aber es konnte ja nicht jeder die Nummer eins - zwei - drei - vier - fünf - sechs besitzen. Bei seinen Überlegungen, warum er die Nummer, die er nun wirklich nicht schwer zu behalten fand, im Kopf behielt, gelangte er schließlich zu dem Schluß, daß der Schlüssel zur Infotelefonnummer in den ersten zwei Ziffern liegen mußte. Sieben ist die Summe von vier und drei, zwölf das Produkt, vier minus drei macht eins, womit man auch nicht mehr vergißt, ob am Anfang erst die drei oder die vier kommt, denn drei minus vier ist minus eins und negative Zahlen gibt es in Telefonnummern nicht. So genau hatte er da noch nie drüber nachgedacht. Und ob er sie sich wirklich dadurch gemerkt hatte? Doch irgendwie so hatte er die Nummer im Kopf behalten. Vier - drei - sieben - eins - zwei - eins.

Den Dietmar haben sie eingebuchtet, erzählte Lisa, als sie vom Telefon zurück kam. Drei Leute waren verhaftet worden, zwei davon schon wieder raus. Dietmar war wirklich keiner von denen, die es verdient hätten - soweit man sich auf diese Bullenlogik überhaupt einlassen mußte. Eigentlich einer von denen, die immer versuchten, die anderen ein bißchen zu beschwichtigen. Keine unüberlegten Aktionen, sagte der immer. Wahrscheinlich war er einfach einer von denen gewesen, die zu spät losgerannt waren.

Dem Paul haben sie den Arm ausgerenkt. Hat schon Anzeige gegen die Arschlöcher erstattet, deshalb ham sie’n wohl auch wieder gehen lassen, wurd’ denen zu unbequem, erzählte Lisa weiter.

Wird wahrscheinlich auch nicht viel helfen, die eine Krähe sticht der anderen kein Auge aus, meinte Andreas, lassen ihn laufen und damit ist für die der Fall erledigt. Und wenn’s dann doch zum Gericht geht ist das Ausübung der Staatsgewalt.

Lisa goß ihm etwas Kaffee nach. Er zog noch einmal am Joint. Das trockene Gefühl im Mund wurde er immer noch nicht los. Ganz im Gegenteil, die Wüste schien sich in seiner Kehle immer weiter auszubreiten.

 

Mein erster Tag am Strand, und das, obwohl ich schon seit zwei Tagen hier bin. Ich laufe Kilometer am Wasser entlang ohne es wirklich zu merken. Immer seltener begegnen mir Leute, bis ich vor mir nur noch eine endlose Weite sehe. Rechts der Sand und die Dünen, links das Wasser. Weit und breit keine Mensch zu sehen, es ist ohnehin noch zu früh für die Massen. Ich ziehe mir die Badehose an und lasse mich ins kühle Wasser gleiten. Langsam tauche ich unter in den Fluten des Meeres, bis ich nur noch ein eintöniges Gluckern und Rauschen um mich herum wahrnehme.

 

Andreas versank in ein Meer aus tausend Farben. Ein weiterer Zug an der überdimensionalen Zigarette. Wie durch eine Nebelwand drangen Lisas Worte zu ihm.

Diese Schweine, aber morgen schlagen wir zurück. Hörst du mich?

Andreas nickte geistesabwesend mit dem Kopf, der gerade von einer ganzen Wanne Seifenwasser umgeben war. Lisa fluchte noch eine ganze Weile über die personifizierte Staatsgewalt, schmiedete Pläne, wie man es ihnen zeigen konnte. Andreas nickt ab und zu mit dem Kopf, während sie auf ihn einredet. Er versuchte noch etwas zu sagen, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. Schließlich wurde es dunkel um ihn herum.

 

Nach einer Stunde in der brütenden Sonne habe ich schon wieder genug vom Strand, entere das nächste Boot und fahre in die Stadt zurück. Den Rest des Tages verbringe ich mehr oder minder damit, mich durch ein Buch hindurch zu quälen, daß mich eigentlich tödlich langweilt.

Ein Mann verliebt sich in seine Haushälterin. Auf den letzten zwei Seiten wird es schließlich doch noch interessant, genauer genommen: überraschend. Die Tochter der Putzfrau hat für eine Weile die Arbeit ihrer Mutter übernommen. War die Haushaltshilfe eine alte schrullige, so ist die Tochter wider erwarten sogar recht hübsch, was er aber erst herausfindet, als er über seine vermeintliche Putzfrau in einem Anflug von nicht zu bändigender Lust herfällt.

Als ich den Buchhändler bei meinem letzten Besuch in Deutschland gefragt habe, ob er mir ein Buch von einem jüngeren deutschen Autoren empfehlen könne, hatte dieser gemeint, es gäbe ein neues Buch von Günter Grass. Notgedrungen habe ich mich also selber auf die Suche gemacht, in jedem Buch, dessen Autor mir unbekannt war, die Seite mit dem Lebenslauf aufgeschlagen, die ersten zwei, drei Seiten angelesen und schließlich die Buchhandlung mit drei Büchern verlassen, bei denen das Geburtsdatum der Schreibenden weit nach dem zweiten Weltkrieg lag. Das erste der drei hatte mich immerhin nicht enttäuscht.

Als ich endlich am Ende des Buches angekommen bin, ist es dunkel. Zurück bleibt nach einem Tag quälender Lektüre die ernüchternde Erkenntnis, daß man die Geschichte auch auf dreißig Seiten hätte komprimieren können. Glücklicherweise, oder in diesem Fall eigentlich eher unglücklicherweise, zähle ich nicht zu der Kategorie von Lesern, die erst das Ende eines Buches lesen, bevor sie sich dafür entscheiden, auf Seite eins anzufangen. Sonst hätte ich es wohl schon nach zehn Seiten wieder aus der Hand gelegt.

 

 

3.

 

Nach drei Tagen habe ich meinen festen Platz unten am Hafen gefunden, zu dem ich bis jetzt Abend für Abend zurückgekehrt bin. Neben mir sitzen ein paar Alte auf der Steinbank, unterhalten sich über das Geschäft des Tages. In der sanften Brise quietscht unaufhörlich ein Schild, das den Weg zur Post weist. Wenn man lange genug zuhört, läßt sich eine Melodie erkennen, die von den Sehnsüchten der Menschheit erzählt. Mal in den tieferen Lagen, voll Traurigkeit, dann wieder himmelhoch jauchzend, als gelte es zu beweisen, daß hier am Ozean kein Wässerchen den endlosen Lauf des Lebens zu trüben vermag.

Über mir rauschen die Palmen. Es ist dunkel, ich starre gedankenverloren in den sternenklaren Himmel. Die Sterne machen den Himmel hier so einzigartig. Ganz anders als in Europa, wo man viel weniger von ihnen sieht. Vielleicht zieht es deshalb so viele mit Sehnsucht hierher. In den Sternen suchen die Menschen nach Weisheit, vielleicht die Weisheit, die ihnen selber fehlt. Die Melancholie trägt mich auf einer sanften Wolke davon, während ich dem Lied des quietschenden Schildes weiter zuhöre. Vier Tage noch, vielleicht noch fünf. Spätestens Sylvester. Die Jahre sind an mir vorbeigeflogen. Diese vier Tage scheinen endlos zu sein.

 

An dem Tag, an dem Andreas das erste mal Lisas Wohnung betreten hatte, war es gut einen Monat her, daß er sie in der Emilienstraße kennengelernt hatte. Die Emilienstraße kannte er schon länger. Nicht daß er jeden Tag dagewesen wäre, aber doch oft genug, immer öfter. Gab gute Filme, ab und zu gute Parties, die Leute waren politisch mit einem irgendwie auf einer Wellenlänge, hatten eins gemeinsam, den Haß auf das Land, in dem sie lebten. Natürlich, er hatte Lisa auch vorher schon in der Emmy gesehen, aber eigentlich war sie ihm nie wirklich aufgefallen, bis vor vier Wochen.

Vor gut einem Monat war das Gerücht in Umlauf gekommen, daß das Haus geräumt werden sollte. Derlei Gerüchte hatte es schon öfters gegeben, immer wieder genährt durch neue Räumungsandrohungen der Staatsanwaltschaft. Passiert war trotzdem nie wirklich etwas. An die Zivilstreife vor dem Gebäude hatten sich alle längst gewöhnt. Die Herren von der anderen Seite waren bekannt. Wenn die sich wenigstens den Schnauz abrasieren würden, hatte Dietmar mal gesagt, aber selbst zur Tarnung sind die zu blöd. Immer wieder mal, in unregelmäßigen Abständen, waren die Uniformierten im Zentrum aufgetaucht. Wenn es bei den Feten etwas zu laut zu ging und sich die Nachbarn beschwert hatten, wenn die Gerüchte, daß der Drogenkonsum im Zentrum überhand nahm, wieder durch Zeitungsartikel genährt worden waren, oder wenn es einfach sonst keinen in der Stadt zu jagen gab. Aber nie hatten die Gerüchte im Zentrum zu so einer seltsamen Unruhe geführt.

In den letzten vier Wochen hatte sich etwas verändert, es lag eine ungewöhnliche Anspannung in der Luft, und irgendwie wußte jeder, daß die Räumung jetzt kurz bevor stand. Man hatte ein Komitee gebildet, daß den Ernstfall vorbereiten sollte. Lisa, Dietmar, all die anderen und schließlich auch Andreas hatten ausgiebigst geplant, was im Fall der Fälle zu tun wäre.

 

Ich beschließe, noch auf ein Bier zu gehen, bevor ich schlafen gehe. Einer von den Jungs, die am Strand herumlungern, fragt mich, ob ich nicht Lust habe, morgen auf einen Trip mit einer Dhau, mit einem der großen Segelboote, die es hier an der Küste gibt, zu gehen. Ich überlege eine Weile. Morgen ist noch so fern. Um neun soll es los gehen.

Das erste mal, daß ich seit Tagen etwas plane. Ich kann nicht leugnen, daß es mir schwer fällt, das Planen zu lassen. Zu sehr möchte ich mein Leben im Griff behalten, wissen, was morgen passiert. Unvorhersehbare Situationen mit hellseherischen Fähigkeiten voraussehen. Tief in mir dieses Bedürfnis, durch Planung Ordnung zu schaffen. Besteht auch immer die Gefahr darin, daß man das Heute über das Planen für Morgen vergißt, so vermittelt es doch ein gewisses Maß der Sicherheit. Trotzdem ist mir nicht einsichtig, warum -allzuviele - Menschen in Europa ihr ganzes Leben auf die Rente hin planen, schließlich in den sogenannten verdienten Ruhestand gehen, um dann erstaunt festzustellen, daß das Leben schon vorbei ist, ehe sie überhaupt angefangen haben, es zu leben. Ich plane keine große Aktion, sondern lediglich einen Bootstrip. Und selbst das ist eigentlich schon zuviel. Schließlich sage ich Ja, zahle etwas an, morgen früh um neun, am Hafen.

Als sie kamen, lagen alle noch recht benebelt von der Party am Vorabend in den Betten und auf den Matratzen. Genügend Leute waren da gewesen, viele waren nach der Fete über Nacht geblieben. Aber als der Ruf über den Hof gellte: sie kommen, waren sie eigentlich schon da. Als Lisa und Andreas in den Hof traten, war der bereits überfüllt mit grünen Uniformen.

Natürlich, sie leisteten Widerstand, so gut es ging. Aber der Übermacht, die offensichtlich aus mehreren Hundertschaften bestand, waren sie einfach nicht gewachsen. spätestens, als drei Bagger an einem Seitenflügel des Gebäudes anfingen, die Wand einzureißen, schlug die Ohnmacht in Wut um, die sich in einem, leider völlig sinnlosen, Steinhagel entlud. Zwar wurden etliche der weiß-grünen Streifenwagen und Kleinbusse demolierte, aber das änderte nichts an der Tatsache änderte, daß die Emmy gerade abgerissen wurde.

Schaffe es endlich, mein Bier zu bestellen. Im Hintergrund läuft Reggae, I am like a Lion in Zion, Bob Marley. Nach geraumer Zeit kommen mein Bier und Petra. Petra habe ich gestern kennengelernt. Die kleine Touristengemeinde, die sich um Weihnachten auf der Insel einfindet, lernt man recht schnell kennen. Ich packe die Kladde weg. Wir unterhalten uns eine Weile, stellen recht schnell fest, daß wir beide auf irgend eine Art und Weise Fugitives, Flüchtlinge, sind. Und wir stellen beide fest, daß Afrika nicht der Ort zum Zuflucht suchen ist. Durchaus ein Ort für eine gelungene Flucht. Nimmt doch die African Unity, die große Mutter Afrika zunächst fast jeden in ihrem Schoß auf. Alle denken für jeden ein bißchen mit, keiner denkt für sich alleine. Ein Mangel an Autonomie, Individualität, der sich bis in die hohe Politik zieht und den die meisten Afrikaner nicht als Mangel empfinden werden.

Lange genug sind wir beide hier. Ich seit einem Jahr, sie das fünfte mal. Vielleicht das, was uns von der übrigen Travellergemeinde unterscheidet. Beide sehen wir das schwarz-weiße Pärchen am Nachbartisch, er Rasta, sie lange blonde Haare, und denken uns unseren Teil. Vielleicht meinen es die beiden ja ernst, aber zu oft wiederholt sich hier die immer gleiche Geschichte. Auch eine afrikanische Geschichte, die mit europäischen Maßstäben von Beziehungen nicht zu messen ist. Hier seien die Familien noch intakt, bekommt man von beziehungsgeplagten Europäern immer wieder zu hören. Gemessen an der Scheidungsrate mit Sicherheit. Das Bild vom glücklichen Leben zu zweit bis in alle Ewigkeit haben wir uns in die moderne Zivilisation hinübergerettet. Von allem anderen unnötigen Ballast, finanziellen Abhängigkeiten, Kindern, gesellschaftlichem Druck haben wir uns weitestgehend befreit, endlich Raum für die wahre Beziehung.

Und seltsamer Weise scheint sie gerade hier nur noch zu funktionieren. Tut sie es wirklich, frage ich Petra. Zu viele Liebesschwüre haben wir beide hier schon über uns ergehen lassen müssen, als daß wir noch daran glauben würden. Nein, hier gibt es noch all das, was unseren Eltern und Großeltern einmal wichtig war: die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von ihren Männern, Frau und Kinder als Statussymbol. Ein noch wesentlich materieller geprägtes Streben nach Sicherheit und Anerkennung.

 

Die Demo für den Ernstfall hatten sie generalstabsmäßig geplant. Für den Fall, daß das System ihnen den Krieg erklärte, wollten sie vorbereitet sein. Demohelfer sollten den Demoverlauf und die Route blitzartig planen und ändern, denn es war von vornherein klar, daß eine unangemeldete Demo ohne angemeldete Demoroute auf ein Katz’-und-Maus-Spiel mit der Polizei hinaus laufen würde. Dietmar, der seinen Zivildienst in einem Krankenhaus gemacht hatte, war als einer von den Sanis eingeteilt worden, die sich um die Verletzten kümmern sollten. Beim Infotelefon sollte man jeder Zeit den Stand der Dinge erfahren können. Bis zum Mittag hatten sie einen Massenauflauf auf dem Chlodwigplatz organisiert, wie ihn Köln sonst nur zu Karneval sieht. Zu der Zeit war von der Emilienstraße allerdings nur noch ein Schutthaufen übrig.

 

Petra kehrte von der Toilette zurück.

Gibt es Leute, die ohne einen Traum nach Afrika kommen? Frage ich sie. Der Traum des Entwicklungshelfers von der Möglichkeit, hier endlich wirklich etwas machen zu können, ebenso wie der Traum des Travellers, daß hier alles noch so viel anders läuft, verkennend, daß der Unterschied, der für viele auf die eine oder andere Art so faszinierend ist, das Verständnis nahezu unmöglich macht.

Man benötigt schon ein verdammt dickes Fell, um über all die Unterschiede einfach hinweg zu sehen, meine ich.

Ein noch dickeres um es nicht zu tun, sagt Petra.

In Afrika wird nicht in die Zukunft geplant. Der Entwicklungshelfer kann hier seinen vollen planerischen Elan entfalten, muß damit aber zwangsläufig in der Sackgasse enden. Die meisten tun es, sofern sie nicht blind sind.

Die wollen hier doch alle nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen, meint Petra. Ich bezweifle, daß das die ganze Wahrheit ist. In jedem Fall macht ihr planerischer Eifer sie hier so haushoch überlegen. Häufig bleiben sie die einzigen, die planen. So viele Hilfsprojekte, die mit dem durchaus ehrbaren persönlichen Einsatz Einzelner Entscheidendes bewegen - bis zu dem Punkt, an dem der große Planer, der in einem Akt von Verzweiflung alle planerischen Entscheidungen auf sich vereint hatte, das Projekt verläßt. Wen wundert es, ist doch der Entwicklungshelfer potentiell arbeitslos, der das Kunststück vollbringt, sich aus der Planung zurückzuziehen und die Planung völlig denen zu übertragen, für die er plant.

Und denen, die nur für wenige Wochen kommen bleibt ein herrliches Gefühl der Zeitlosigkeit, daß sie in Europa vermissen werden. So sehr es die meisten Europäer fasziniert, auf einen Kontinent zu geraten, auf dem nicht geplant wird, so sehr macht ihr Denken in die Zukunft sie hier so überlegen.

Und keiner von denen, die herkommen, legt dieses Denken wirklich ab, meint Petra. Weißt du, das ist wie im Sozialismus, der große Bruder sagt dir er plant alles für dich, und du hörst auf, selber zu denken. Das Endergebnis ist das gleiche. Nicht mehr Ordnung, sondern mehr Chaos. Ich gebe zu bedenken, das die Leute im Osten nicht planen durften. Und hier wollen sie es nicht, unterbricht mich Petra.

Petra lebt in Deutschland von Sozi. Wenn sie sich das Geld richtig einteilt, reicht es für ein, zwei Monate Afrika im Jahr. Auch sie kann das Planen nicht lassen. Sie ist gerne arbeitslos, alles ‘ne Frage der Geldeinteilung. Eine Art der Zukunftsplanung, die den meisten Afrikanern, wie auch Petra zugeben muß, schon durch das Fehlen eines sozialen Systems verwehrt ist.

Meinst du, man kann überhaupt in die Zukunft planen, wenn die wichtigste Aufgabe des Tages ist, das Essen für den folgenden Tag sicher zu stellen? Petra bleibt mir die Antwort schuldig. Ich bereue, für den nächsten Tag geplant zu haben, es ist zwei Uhr nachts, als wir gehen.

 

 

4.

 

Na, hast du gut geschlafen? Andreas wußte nicht so recht, wo er war. Dich hat das Dope ja ganz schön umgehauen. Langsam dämmerte es ihm. Die Räumung, der Joint, Lisa. Naja, es geht so, beantwortete er ihre Frage. Eigentlich wie’n Stein. Sie saß ihm in Unterhose und T-Shirt, von dem sich ihre Brustwarzen abhoben, gegenüber. Du bist ja völlig daneben, he, sagte sie. Er starrte immer noch auf ihr T-Shirt, zuckte zusammen, weil er sich bei etwas ertappt fühlte, und meinte schließlich: Nee, geht schon wieder. Um ihn herum war noch immer alles in sachtes grün getaucht. Komm ich mach dir erst mal ‘nen Kaffee. Aber nicht das du den wieder umschüttest und dann kalt werden läßt, wie gestern. Sie verschwand in der Küche und man hörte das Geklapper von Töpfen und Geschirr. Scheiße, du verpaßt die Vorlesung über die analytische Mathematik, schoß es Andreas durch den Kopf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß das ein verschwendeter Gedanke war. Zwanzig vor zwölf, in fünf Minuten war die Vorlesung zu Ende.

Ein paar Minuten später kam Lisa mit dem Kaffee, ein paar Scheiben Toastbrot, zwei Eiern, Käse und Marmelade zurück. Scheiße, aus der Traum, sagte sie, und als wäre damit das Thema für die beendet stieß sie die beiden Eier aneinander und begann ihres zu pellen.

Meinste nicht, wir finden was Neues, fragte Andreas.

Nee, vergiß es, das gibt’s nur einmal. Damit war das Thema abgehakt.

Sag mal was machst’n du eigentlich sonst so? Irgendwie hatten sie sich da nie drüber unterhalten, fiel Andreas auf. Er hatte von anderen Leuten gehört, daß sie was Politisches oder Soziales studierte. Aber genau wußte er das eigentlich nicht.

Physik, sagte er, auf Diplom.

Na wenigstens wirste kein Lehrer, sagte Lisa, was Andreas nicht verstand. Findste das nicht ‘n bißchen theoretisch?, fragte sie weiter. Auch damit konnte er nichts anfangen. Also sagte er ins Blaue hinein:

Nee, theoretische Physik find ich auch nicht so spannend. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß sie aneinander vorbeiredeten.

Naja, muß ja jeder machen, womit er glücklich wird. Warum nicht Physik, sagte sie. Und damit schien auch das Thema abgehakt.

Warum eigentlich Physik, überlegte Andreas. So genau hatte er da noch nie drüber nachgedacht. Schon als Kind hatte er Spaß daran gehabt, aus Sylvesterkrachern kleine Bomben zu basteln. Schließlich hatte er irgendwann versucht, aus einem seiner Matchboxautos ein Auto mit Raketenantrieb zu fabrizieren. Seinen Eltern war es immer gehörig auf den Wecker gegangen, wenn er wieder mal zu spät zum Essen kam, nur weil er wieder an irgendwelchen Radios rumbastelte, die er im Sperrmüll gefunden hatte. Er wollte den Problemen auf den Grund gehen. Warum er schließlich Physik studiert hatte, wußte er eigentlich auch nicht so genau. Vielleicht war es die kindliche Freude am Herumexperimentieren. Das ein Physikstudium ganz andere Sachen beinhaltet, hatte ihn am Ende eigentlich gar nicht mehr gestört. Ich hab’ Spaß dran, dachte er.

Den Rest des verspäteten Frühstücks verbrachten sie mehr oder weniger schweigend, die Ellenbogen auf die Matratzen aufgestützt, die überall im Zimmer auf dem Boden lagen.

 

Ich stehe natürlich viel zu spät auf. Kurz nach acht. Meinen Wecker habe ich vorsorglich gleich Zuhause gelassen. Den Ruf des Muezzins hatte ich heute morgen zwar wieder gehört, war dann aber doch noch einmal eingeschlafen. Für Kaffee ist es zu spät. Bis der kleine Brenner richtig heiß ist dauert es zu lange. Für die Dusche muß es allerdings noch reichen. Noch immer klebt das Salz vom Vortag auf meiner Haut. Ich drehe den Wasserhahn auf. Es ist kalt. Ich hatte schon in den letzten Tagen die Erfahrung gemacht, daß es sinnvoller war, abends zu duschen. Bis dann ist das Wasser im Wassertank auf dem Dach von der Sonne auf angenehme Temperaturen aufgeheizt. Schnell in die Klamotten gesprungen die Taucherbrille eingepackt, Stift und Papier in den kleinen Rucksack gestopft, und los geht’s. Ich ärgere mich ein weiteres mal, überhaupt geplant zu haben. Das Frühstück muß heute ein wenig spärlicher ausfallen. Ich wundere mich, woher ich überhaupt die Energie für soviel Hektik am frühen Morgen hernehme. Immerhin, dank der kalten Dusche bin ich jetzt wenigstens hellwach.

 

Ich geh dann mal eben Duschen, sagte sie schließlich. Irgendwie war dieser Morgen beschissen. Er hatte viel zu lange geschlafen, hatte eine wichtige Vorlesung verpaßt und mußte sich dringend über die Bücher setzen. Im Bad rauschte das Wasser. Um wenigstens nicht dumm rumzusitzen, stellte er die Tassen ineinander, alles auf das Tablett, auf dem Lisa das Frühstück gebracht hatte und ging damit in die Küche. Lustlos lies Andreas das Wasser in die Spüle und fing an das Geschirr abzuwaschen.

Er haßte Geschirrspülen und schwor sich jedes mal wieder, sich eine Spülmaschine zu kaufen, sollte er jemals das Geld dafür haben, egal, ob das eine Umweltsauerei war, für einen alleine eine Spülmaschine anzuschaffen oder nicht. Gegen Wäsche waschen hatte er nichts. Das macht er auch nicht wirklich mit Freuden, aber er hatte doch jedes mal ein gutes Gefühl, wenn alles nachher nach Waschpulver, vorzugsweise Persil, roch und wieder sauber war. Das machte es erträglich. Geschirr abwaschen beinhaltete leider nicht dieses Aha-Erlebnis, mal abgesehen davon, daß hinterher das Geschirr natürlich auch sauber war. Kaltes, glattes Metall und Porzellan. Den Citrusduft der meisten Geschirrspülmittel konnte er nicht ab. Vielleicht liegt es auch nur daran, daß ich nicht gerade ein leidenschaftlicher Koch bin, überlegte er, als er den nächsten Kochtopf ins Spülwasser tauchte. Spaghetti konnte er inzwischen ganz gut, aber damit hörte es auch schon fast auf. Vielleicht würde sich seine Haltung zum Geschirrspülen ändern, wenn er erst mal ein paar mehr Sachen als nur Spaghetti kochen könnte, überlegte er. Einen Kochkurs wollte er deshalb aber noch lange nicht machen. Also würde ihm der Ekel vorm Geschirrspülen wohl nicht so schnell vergehen.

Schließlich hatte er sich durch den Berg Geschirr hindurchgespült, sogar abgetrocknet, was er sonst für schlichtweg überflüssig hielt., und alles in den Küchenschrank zurückgeräumt. Bei ihm Zuhause erstreckte sich dessen Inhalt auf drei Tassen und viereinhalb Teller. Viereinhalb, weil einer in der Mitte einen Sprung hatte, deshalb immer leckte und dadurch im Grunde unbrauchbar war. Aber er mochte ihn doch nicht wegwerfen, weil ob seiner Spülphobie doch ständig Geschirrmangel herrschte und sich durch die Benutzung des Tellers mit dem Sprung, zumindest für das ohnehin meistens ausfallende Frühstück, das Spülen immer noch um einen Tag hinauszögern ließ.

Lisa verfügte über eine ganze Sammlung von Kochtöpfen, und war auch was das Geschirr und Besteck betraf, nicht schlecht ausgestattet. Sie würde ihm erst viel später erzählen, daß sie genauso unleidenschaftlich kochte wie er und daß sie den Geschirrsegen nur ihrer Großmutter verdankte, die der standhaften Meinung war, daß das einzig sinnvolle Geschenk für ein Mädchen zum bestandenen Abitur ein Beitrag zur Kücheneinrichtung sei, da es nach all der - ohnehin völlig überflüssigen - Lernerei doch wohl bald heiraten würde.

Er hatte es endlich hinter sich und ging zurück in das Zimmer, in dem sie gefrühstückt hatten. Ihm war gar nicht aufgefallen, daß das Rauschen der Dusche schon seit geraumer Zeit verstummt war. Er öffnete die Türe und da stand sie vor ihm. Nackt. Sich die nassen Haare abtrocknend. Er wollte wieder raus aus der Türe, als sie sagte: komm rein, mach’s dir bequem. Das war das letzte was er wollte, er fühlte sich schon unbehaglich genug. Schließlich blieb ihm aber doch nichts anderes übrig, als sie ihn mit einem herausfordernden, entwaffnenden Lächeln ansah. Er versuchte zwanghaft, nicht auf ihren Busen zu starren, und schon gar nicht auf das behaarte Dreieck darunter. Aber irgendwie gelang es ihm auch nicht, einfach ins Leere zu sehen. So viele Ecken, in die man hätte blicken können gab es in dem kleinen Zimmer auch gar nicht. Was glotzte denn so, noch nie ‘ne nackte Frau gesehen?

Er erinnerte sich an die Playboyhefte, die er mit vierzehn immer unter seinem Bett versteckt hatte und mit denen sein Vater ihn eines Tages beim onanieren erwischt hatte. Er hatte sie ihm erbost weggenommen, war dann aber doch nach zwei Tagen zu ihm zurück gekommen und hatte sie ihm mit den Worten, naja, sehen ja eigentlich nicht schlecht aus, zurückgegeben. Laß das aber nicht die Mutter sehen, hatte er noch hinzugefügt und war dann ohne ein weiteres Wort wieder aus seinem Zimmer verschwunden. Eine Woche später hatte Andreas dann die Dinger, gut in Plastiktüten versiegelt, in die Mülltonne geschmissen. Bis er dann die erste Frau wirklich nackt gesehen hatte, hatte es noch eine Weile gedauert, außer seiner Mutter und seiner Schwester natürlich. Claudia hieß sie, wußte er eigentlich auch nicht mehr genau, ob es die Claudia war, doch war es, aber geschlafen hatte er mit der nicht, genau. Die wollte sich das immer für den Mann für’s Leben aufheben. Das letzte, was er von einem Schulfreund vor einigen Monaten über sie gehört hatte, war, daß sie jetzt mit ihrem Kind irgendwo in Berlin lebte. Der Vater zum Kind hatte nach neun Monaten panisch die Flucht ergriffen. Nach der Claudia hatte es dann noch mal eine Weile gedauert. Da hatte er dann Susanne kennengelernt. Die wollte sofort, noch ehe er sie eigentlich richtig gekannt hatte.

Ihr Männer glotzt den Frauen auch immer nur auf die Titten, riß sie ihn aus seinen Gedanken. Keine Ahnung, was an der Fleischansammlung so besonders ist. Aber muß ja was haben, sonst wärt ihr nicht so geil drauf. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie seine Augen wie von einer fremden Macht getrieben auf ihrem Busen landeten. Erwischt, ging es ihm durch den Kopf. Andreas wußte, daß das So’n Unsinn, das er murmelte, eine glatte Lüge war.

Sie setzte sich neben ihn auf die Matratze, auf der er es sich gemütlich gemacht hatte, faßte seine Hand, legte sie auf ihre rechte Brust, und sagte: Mußte mal anfassen, ist echt nur ‘n Haufen Fettgewebe. Nix besonderes, hat jede Frau. Andreas schoß das Blut in den Kopf.

 

Mir steckt der letzte Abend immer noch in den Knochen. Es war wohl doch ein Bier zuviel, denn mein Gehirn produziert inzwischen einen leichten Anflug von Kopfschmerz. Ich haste durch die engen Gassen, die heute morgen alles von ihrer Romantik und Lethargie verloren haben. Schnell noch in einen der kleinen Läden, die auch um diese Uhrzeit schon geöffnet sind. Ich kaufe eine Schachtel Zigaretten und eine Rolle Klopapier. Denn zu allem Überfluß hat mein Magen heute morgen einige Unheil verkündende Geräusche von sich gegeben und scheint sich gerade mit meinem Kopf zu einer den ganzen Körper ergreifenden allgemeinen Unwohlseinsattacke zu verbünden. Nachdem ich dreiviertel des Weges hinter mir habe, ziehe ich nochmals den Gedanken in Betracht, besser umzukehren. Eine Bootsfahrt ist jetzt sicherlich nicht das, was ich meinem Magen zumuten sollte. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, daß es bereits nach neun ist. Also gut, denke ich, man kann es ja drauf ankommen lassen, wahrscheinlich ist das Boot ohnehin schon weg. Um wenigstens alles Menschenmögliche getan zu haben, beschleunige ich mein Tempo. Zu meiner Verwunderung stelle ich fest, daß die erhöhte Schrittfrequenz meines Bewegungsapperates meinen Magen zu beruhigen scheint. Ich laufe, renne und verlangsame meinen Schritt erst, als ich den Hafen erreiche.

 

Lisa lehnte sich zurück und führte seine Hand langsam über ihren nackten Körper. Sie sah ihm in die Augen. Wundert mich ja immer wieder, mit was für simplen Dingen man euch Männer glücklich machen kann, murmelte sie, während sie ihre andere Hand unter sein T-Shirt schob. Langsam näherte sich ihr Mund dem seinen, und, als wäre es die normalste Sache der Welt, was sie sicherlich auch ist, aber für Andreas in dem Augenblick keinesfalls war, drückte sie ihre Lippen auf die seinen, schob ihre Zunge zwischen den Spalt, der seine und ihre Lippen verband, und bewegte ihre Hand ohne Umschweife über seinen Bauchnabel in Richtung des Reißverschlusses seiner Jeans.

Langsam fand er sich mit dem Gedanken ab, daß da etwas in seinem Kopf vor ging, daß er nicht mehr völlig unter Kontrolle hatte. Fast nicht mehr. Er zog ein Kondom aus der Hosentasche, legte es auf den Tisch neben die Kaffeetassen.

Allzeit bereit, was? grinste sie ihn an.

Nee, immer auf das Schlimmste vorbereitet.

Und er erzählte ihr die Geschichte von dem Pinguin Arnold aus dem Eis, der auszog, um die Elefanten im Urwald zu sehen, ausgerüstet mit einer Taschenlampe, einem Stück Angelschnur und drei Luftballons, auf das Schlimmste vorbereitet. Aufgeschrieben hat Andreas die Geschichte später nie. Die Matratzen hatten sich in eine Eisscholle verwandelt, auf der sie durch die sternenklare Nacht über den Ozean trieben, und als Andreas das erste mal mit Lisa und Lisa zum ersten mal mit Andreas schlief, war es draußen schon dunkel und der Mond schien durch eines der Dachfenster.

 

Fortsetzung folgt....

 

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