Der Professor hat immer Recht

An Ostasiens Hochschulen herrscht eine völlig
andere Lernkultur - viele Studenten streben
ins Ausland

Von Alexander Remler

 

Widerspruch schickt sich nicht, Konformismus ist Trumpf:
Studentinnen der Keio-Universität in Tokio bei einer
Veranstaltung.
Foto: DPA

 

Das Seminar an der Wasseda Universität, einer der
renommiertesten Hochschulen Japans, ist eher mäßig
besucht. Auf dem Lehrplan steht «Politik und Wirtschaft in
Deutschland». Gerade hat der Professor nach der
Hauptstadt des fernen Landes in Europa gefragt und sich,
als keine Reaktion kam, die Antwort selbst gegeben.
«B-O-N-N», schreibt er nun in Großbuchstaben an die Tafel.

Der Fehler bleibt nicht unbemerkt. Einige der Studenten
stoßen sich an, andere kichern verhalten. Wieder andere
bekommen gar nichts mit, weil sie, was in japanischen
Hochschulen nicht unüblich ist, mit dem Kopf auf dem Tisch
in den hinteren Reihen schlafen. Doch niemand erhebt
Einspruch, denn nach der konfuzianischen Tradition hat der
Schüler die Autorität des Lehrers in jedem Fall zu achten.
Dazu gehört auch, auf keinen Fall zu widersprechen. Kein
Wunder, dass Studenten aus Europa, die für einige Zeit an
ostasiatischen Hochschulen studieren, einige Zeit
brauchen, um sich an die Umgangs- und Höflichkeitsformen
zu gewöhnen.

«Lernen, lernen, lernen. Eine starke Verschulung der Lehre
ist an vielen Hochschulen in Asien immer noch tägliche
Praxis», weiß der koreanische Japanologe und
Wirtschaftswissenschaftler Prof. Sung-Jo Park vom
Ostasiatischen Seminar an der Freien Universität (FU)
Berlin.

Examensdruck, Paukschulen und der ständige Wettlauf um
einen Platz an einer Elite-Uni: Diese Eigenheiten - vor allem
des japanischen Bildungssystems - sind auch Ausländern
bekannt. Diesem System verdankt Japan zwar einerseits
den wirtschaftlichen Aufschwung.

Mittlerweile offenbart es aber auch seine Schwächen.
Berichte über Schulverweigerung, Schikanen gegen
Mitschüler und Angriffe auf Lehrer werden in der japanischen
Öffentlichkeit erschrocken zur Kenntnis genommen.

Dazu hat die Zahl der arbeitslosen Hochschulabsolventen in
Japan mit 280 000 im vergangenen Jahr einen Rekordstand
erreicht. All dies hat den Ruf nach grundlegenden Reformen
verstärkt.

«Reformstau» wird nicht nur in Deutschland, sondern auch
im Fernen Osten beklagt. Selbst die wirtschaftlich
aufstrebende Volksrepublik China bildet da keine
Ausnahme. Seit der Kulturrevolution herrscht dort ein
eklatanter Mangel an Studienplätzen. Nur vier bis fünf
Prozent eines Altersjahrgangs gelingt es, einen Studienplatz
an den 1066 Universitäten des Landes zu ergattern. Seitdem
es sich jedoch immer mehr Eltern leisten können, ihr
Einzelkind studieren zu lassen, wächst der Druck auf die
Führung in Peking.

«Wie im Nachkriegsdeutschland folgt in China auf die
Fress-, Bekleidungs- und Konsumwelle der
Bildungsboom», konstatiert der Leiter der Außenstelle
Peking des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
(DAAD), Hansgünther Schmidt. Da sich die Zahl der
Universitäten und damit der Studienplätze kurzfristig nicht
steigern lässt, schicken vermögende Chinesen ihre Kinder
zunehmend ins Ausland. Immer mehr Agenturen entstehen,
die Studienplätze in Europa oder den USA «vermitteln» -
gegen Gebühren, versteht sich. Für die Vermittlung eines -
an sich kostenlosen - Studienplatzes in Deutschland
verlangen sie nach Schätzungen von Hansgünther Schmidt
«zwischen 10 000 und 40 000 Mark». Dagegen ist in Japan
die «Breitenbildung» das große Plus. Schulen und
Hochschulen orientieren sich am amerikanischen
Bildungssystem, rund 96 Prozent eines Jahrgangs haben
die Oberschule durchlaufen. 41 Prozent der Japaner - fast
jeder Zweite - haben einen Universitätsabschluss: Damit
gehört das Land im internationalen Vergleich zur Weltspitze.
Doch das große Bildungsinteresse hat zu einer aberwitzigen
Konkurrenzsituation geführt, die bereits mit
Aufnahmeprüfungen für den Kindergarten beginnt und sich
mit Eingangsprüfungen für Schule, Oberschule und
Hochschule fortsetzt.

Für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind vor allem die
Namen der Unis entscheidend. Das hat zu einer Art
Rangliste der staatlichen, städtischen und privaten
Universitäten geführt, die sich für Studenten vor allem im
Schwierigkeitsgrad der Zulassungsprüfung widerspiegelt. In
vielen Fällen stellt die Aufnahmeprüfung ja eine größere
Hürde als die Abschlussprüfung dar.

Jedes Jahr macht sich daher unter Studenten die so
genannte «Aprilkrankheit» bemerkbar. Denn wenn die
Prüfungshölle zum Eintritt in die Uni erst einmal überwunden
ist, müssen sich die Studenten kein Bein mehr ausreißen,
was in Südkorea und in Taiwan im Übrigen ganz ähnlich ist.
Da die jungen Leute zum ersten Mal auf sich allein gestellt
und auf selbstständiges Arbeiten nicht vorbereitet sind,
fallen viele ins schwarze Loch der Demotivation - was oft
durch verschiedenste Freizeitaktivitäten kompensiert wird.

Hohe Studiengebühren und die relative Aussichtslosigkeit
auf einen Platz an einer renommierten Hochschule hat zu
der Befürchtung eines «brain drains» geführt - der Angst,
dass die Begabten abwandern: Viele japanische Eltern, aber
auch wohlhabende Familien in anderen Teilen
Südostasiens, schicken ihre Kinder zum Studium ins
Ausland. Zumindest in Japan hat sich dieser Trend aber
inzwischen stabilisiert, wenn auch auf hohem Niveau. «Mit
64 284 ist die Zahl japanischer Studenten im Ausland 1999
nur geringfügig gestiegen», so der Leiter der
DAAD-Außenstelle in Tokio, Ulrich Lins.

Dabei ist es politisch durchaus gewollt, dass japanische
Studierende das Ausland kennen lernen. Vor allem teure
Privatuniversitäten errichten daher zunehmend
Dependancen im Ausland, wo ihre Studenten einen Teil
ihres Studiums verbringen können. «Für uns ist es
unvorstellbar, dass die Freie Universität eine Zweigstelle in
Tokio eröffnet, damit deutsche Studenten Land und Leute
kennen lernen können», so Professor Park. Umgekehrt
habe aber die Tokyo University in den USA, in England und
in Schmöckwitz bei Berlin eine Nebenstelle eingerichtet.

Dort können sich japanische Studenten mit der deutschen
Sprache und Mentalität vertraut machen. Vielleicht lernen sie
dabei auch, dass Widerspruch und Kritik keine Zeichen der
Respektlosigkeit sein müssen, sondern Teil einer
gesunden Diskussionskultur sein können.

 

 

 

 

 

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