BEILAGE Donnerstag, 4. November 1999

  Bayern Seite H20 / Deutschland Seite H20 / München Seite H20

Ein Nest für akademische Kuckuckseier

Das Erasmus-Programm bietet europaweit Stipendien an / Gefördert werden auch Angehörige fremder Fakultäten

Darauf hat Tanja lange gewartet: Endlich bietet sich der Dortmunder Journalistik-Studentin die Gelegenheit, für ein paar Monate in Italien zu studieren – an der Journalisten-Schule Perugia. Tanja muss allerdings mit vier Mitbewerbern um ein Erasmus-Stipendium buhlen. Nach Abgabe eines tabellarischen Lebenslaufs, einer schriftliche Begründung und nach einem Auswahlgespräch ahnt sie: „Italien wird nichts“. Es ist aber doch etwas geworden – nicht über die Dortmunder Hochschule, sondern über die Romanistik-Fakultät an der Ruhr-Universität Bochum, an der Tanja als Zweithörerin eingeschrieben ist. Dort lagen noch Erasmus-Plätze brach. Eine Unterschrift genügte und vier Wochen später kam die Bestätigung.

Die Entscheidung, welche Studierenden mit dem EU-Austausch-Programm Erasmus über die Grenze geschickt werden, liegt allein bei den Fachbereichen. Sie bestimmen das Platzangebot. Übersteigt die Nachfrage die Zahl der ausgehandelten Plätze, wie am Journalistik-Institut in Dortmund, muss gesiebt werden. Die Ablehnung im eigenen Fachbereich bedeutet jedoch nicht das Ende der Auslands-Pläne. Freie Erasmus-Plätze gibt es zur Genüge. Viele Hochschulen können nicht einmal die Hälfte ihrer Plätze besetzen. „Den Fall, dass alles belegt ist, gab es bei uns noch nie“, sagt Christine Gottschlich von der Fachhochschule Kiel, wo derzeit nur ein Viertel des Potenzials ausgenutzt ist. Generell hat die besten Chancen, wer nicht auf die bevorzugten Austauschländer Großbritannien, Frankreich und Spanien pocht.

Viele freie Plätze

Obwohl die Vereinbarungen mit den ausländischen Hochschulen nur für Studierende des gleichen Fachs gelten, nehmen sich die Hochschulen in der Praxis Spielraum – insbesondere wenn freie Plätze zu verfallen drohen. „Es ist schon möglich, dass ein Theologe einen Platz in den Sprachwissenschaften bekommt. Für alle Beteiligten ist das allerdings mit höherem Aufwand verbunden“, sagt Jean Schleiß vom Akademischen Auslandsamt der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Über die Zweitfächer lasse sich schon einiges machen, bestätigt Eberhart Däschler von der Uni Tübingen.

Hat die Gastgeber-Hochschule keine Einwände gegen das akademische Kuckucksei, ist der Weg für das drei- bis zwölfmonatige Erasmus-Studium frei. Studiert der Theologe in Madrid Philosophie, muss er sich allerdings darauf einstellen, dass seine spanischen Scheine daheim nicht anerkannt werden.

Flexibel muss der Student auch mit seinen Finanzen sein. Einheitsbeträge (monatlich 100 Mark) gibt es nur für Empfänger von Auslands-BaföG. Bei den anderen 80 Prozent der Erasmus-Studierenden ist monatlich von 100 bis zur Höchstgrenze von 400 Mark alles drin. Ein Grund für die Schwankungen ist das Verteilungsverfahren. In der Regel richtet sich die Höhe der EU-Zuschüsse nach der Zahl der Plätze, die die Hochschule ein Jahr zuvor beantragt hat. Je weniger dieser Plätze besetzt werden, desto mehr Geld bleibt für diejenigen Studierenden übrig, die tatsächlich ins Ausland gehen. Hochschulen, die realistischer kalkulieren, können dem Einzelnen weniger zahlen.

Um die Verteilung gerechter zu gestalten, hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in Bonn, der das EU-Geld im Auftrag des Bundes an die deutschen Hochschulen überweist, Konsequenzen gezogen. Werden weniger als 46 Prozent der Plätze (deutscher Durchschnitt) besetzt, behält der DAAD zunächst ein Fünftel des bewilligten Geldes ein. Bleibt die Quote auch weiterhin mager, verteilt der DAAD das Geld an Hochschulen mit höherer Auslastung. Verbessert sie sich, bekommt die Hochschule die Summe nachträglich ausgezahlt. Eine Übergangslösung. Ziel ist ein europaweites Verteilungsmodell, das sowohl die tatsächliche Auslastung des Vorjahres als auch die beantragten Plätze berücksichtigt. „Das wäre jedenfalls fairer, als nur die Anträge zu Grunde zu legen“, sagt Siegbert Wuttig, Leiter der Arbeitsstelle EU des DAAD.

Bildung von der EU gefördert

Erasmus gehört seit 1995 zum übergeordneten EU-Bildungsprogramm Sokrates. Dessen erste Generation läuft in diesem Jahr aus. In Brüssel wird derzeit der Finanzrahmen für Sokrates II bis zum Jahr 2006 diskutiert. Der Ministerrat will 1,55 Milliarden Euro für das gesamte Sokrates-Programm der kommenden sieben Jahre investieren; das EU-Parlament fordert 2,5 Milliarden. Über mehr Geld würden sich die Erasmus-Studierenden freuen, denn die momentane Fördersumme reicht kaum für große Sprünge. „Erasmus dient ja auch nur dazu, die auslandsbedingten Mehrkosten der Studierenden abzudecken,“ erklärt Wuttig. Die EU spricht von einem „Mobilitätszuschuss“: Geld, um Reise und Sprachkurse zu finanzieren sowie erhöhte Lebenshaltungkosten auszugleichen. 270 Mark pro Monat hält Wuttig für tolerabel. Den Rest müssen die Studierenden selbst aufbringen – über Eltern, Bafög oder Job. Sie haben dafür den Vorteil, dass die Gastgeber-Hochschulen auf Studiengebühren verzichten.

In Island oder Zypern studieren

Obwohl die Hälfte aller Erasmus-Studenten den Zuschuss laut Umfrage der EU-Kommission zu niedrig findet, wollen Jahr für Jahr mehr Deutsche über Erasmus ins Ausland. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre ist die Zahl der deutschen Stipendiaten von jährlich 2000 auf rund 15 000 gestiegen. Besonders begehrt sind die Erasmus-Plätze bei Studenten der Wirtschaftswissenschaften, der Sprachen sowie bei Ingenieuren und Juristen. Neben den 15 EU-Mitgliedsstaaten sind die zehn EU-Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa sowie Island, Norwegen, Liechtenstein und Zypern am Erasmus-Programm beteiligt. In diesem Jahr fließen allein 27 Millionen Mark „Mobilitätszuschüsse“ an 240 deutsche Hochschulen.

Erasmus ist nicht der einzige Weg zum Auslandsstudium, aber der bequemste: Den Papierkram erledigen die Koordinatoren, die Scheine werden oft anerkannt, und das Zimmer ist bei der Ankunft häufig schon reserviert. Vollstipendien erfordern mehr Eigeninitiative, bringen dem Einzelkämpfer aber auch mehr Geld ein.

Tonia Siebers / Simon Stock

Die privaten Hochschulen haben die Nase vorn. Sie organisieren für ihre Studenten die meisten Stipendien. Allerdings ist es zum Beispiel an der WHU auch Pflicht, ins Ausland zu gehen, die Nachfrage ist dementsprechend groß. An vielen großen Universitäten bleiben die Mittel hingegen ungenutzt.

Quelle: Deutscher Akademischer Austausch Dienst (DAAD)

 


SZ - Beilage 04.11.1999

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
A009.422.429
   
1