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Nachrichten : Kultur : Essay
2.12.2000

 
Osterweiterung
 
 
Kann man die EU lieben?
 
Westeuropa blickt mit zwiespältigen Gefühlen in Richtung Osten. Dabei können gerade Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn die Verkrustungen aufbrechen
 
Adam Krzeminski
 
Eine Woche vor den Wahlen in den USA kam eine Warschauer Wochenzeitung mit der Titelgeschichte heraus: "Das Land der Superlative. Warum wir Amerika lieben". Wäre eine solche Gefühlswallung der Europäischen Union gegenüber möglich? Kaum - und zwar selbst in einem so beitrittsfreudigen Land wie Polen nicht.

Europa ist vielleicht liebesbedürftig, aber immer noch nicht allzu liebenswert. Es ist ein Monstrum und eine Hoffnung zugleich, eine Chimäre und ein Fluchtpunkt; es ist stolz auf seine Vielfalt, seine Unterschiedlichkeit im Innern und die musealen Werte seiner geistigen Geschichte, und es kaschiert die traurige Tatsache, dass es partout keinen "european dream", kein europäisches "pursuit of happiness" gibt, dass nationale und soziale Egoismen immer wieder Ansätze eines gesamteuropäischen Bürgersinns durchkreuzen, dass die als "Bereicherung" viel gerühmte Sprachenvielfalt Europa zu einem Turm von Babel gemacht hat.

Von Gott für ihre imperiale Hybris und ihre nationale Kleinlichkeit bestraft, werkeln die Europäer nun schon seit Jahrhunderten an ihrer schönen Halbinsel Eurasiens herum. Seit zweitausend Jahren vereinigt sich Europa und zerfällt zugleich. Die Europäer bringen sich massenweise gegenseitig um und versöhnen sich dann mehr oder weniger halbherzig. Sie berufen sich auf ihre gemeinsamen geistigen Werte und sind zugleich seit jeher peinlichst darauf bedacht, ihre jeweiligen nationalen "Leitkulturen" abzugrenzen und vor einem "europäischen Allerlei" zu bewahren. Wer würde heute unter der blauen Europafahne Goldmedaillen gewinnen wollen? Welcher Immigrant würde - mit der rechten Hand auf dem Herz - auf sie schwören, die europäische Hymne singen, die ersten Worte der europäischen Verfassung ("We, the people of Europe ...") bedächtig wie Bibelworte nachflüstern und schließlich stolz sein, endlich ein Bürger Europas geworden zu sein?

Nichts dergleichen passiert in Europa, das zwar schon etwas mehr als nur ein geografischer Begriff, doch mit der EU immer noch keine politisch-bürgerliche Entität geworden ist. Ein europäischer Patriotismus ist nicht in Sicht. Der beste Beweis dafür sind die wichtigsten Europa-Debatten des letzten Jahres: die Osterweiterung der EU mit der Grenzziehung nach außen, die "finale" Gestalt der EU als "vereinigte Staaten von Europa", dann das Gerangel um die Charta der europäischen Grundrechte, die das Fundament einer künftigen europäischen Verfassung bilden soll, und schließlich - als Reaktion auf die "Aufweichung des Nationalstaates" - die unsägliche Debatte um die "Leitkultur" in Deutschland und um das Bild des "hässlichen Deutschen" im Ausland.

Die Deutschen und die EU seit 1989

Letztere wird übrigens nicht nur in Deutschland geführt, auch in Polen etwa gärte anläßlich der Expo und der Frankfurter Buchmesse eine nationale Debatte darüber, wie man das Bild Polens in Europa und den Stellenwert der polnischen Nationalkultur auf der europäischen Bühne verbessern könnte. Unsere Identitätskrisen erleben wir Europäer in nationalen und sozialen, selten aber in europäischem Rahmen. Es gab zwar Zeiten, gleich nach dem Krieg, als die Deutschen gerne ihr Schamgefühl hinter der Spanischen Wand Europas versteckten: Ich bin Europäer und Hesse oder Bayer, das Deutsche an mir kann mir gestohlen bleiben. Doch das Jahr 1989 hat dies umgedreht. Die Deutschen sind zwar nicht an der Haltestelle "Vereinigung" aus der europäischen Straßenbahn ausgestiegen, trotzdem sind sie längst nicht mehr die eingeschworenen Europäer, als die sie sich vor 1989 gaben. Das ist kein Vorwurf, anderswo ist es nicht viel besser. Die vorwiegend unter Experten geführte Debatte um die EU-Grundwertecharta läuft doch weitgehend an den Europäern vorbei. Jede Diskussion über die Bewahrung nationaler Identitäten und die Wahrung der nationalen Interessen bindet die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in den meisten EU-Ländern weitaus stärker.

Und trotzdem wird Europa zunehmend zu einer normgebenden Instanz für seine Nationen. Der Ansturm der Möchtegern-Europäer aus dem Osten und dem Süden auf die EU dauert an, und man sollte dahinter keineswegs nur Gier nach Ausgleichszahlungen vermuten. Es ist mehr. Die EU befreit auch uns - Polen, Tschechen, Ungarn, Esten usw. - ein wenig von uns selbst, von unseren Komplexen, Rückständigkeiten und zivilisatorischen Sackgassen. Andererseits sind wir - als Neuzugänge - keineswegs nur eine Belastung für die Alt-Europäer, sondern auch ein notwendiger Schuss Frische und Energie der Aufsteiger und nicht zuletzt eine Schocktherapie für die stagnierende EU.

Es kann sich nämlich erweisen, dass gerade die Ostmitteleuropäer "bessere EU-Bürger" sein werden als manche bisherige "EU-Aborigines". Die Polen, Ungarn, Tschechen bringen nicht nur ihre nationalen Kränkungen und Verspätungen in die EU ein, sondern auch eine jahrhundertelange Erfahrung mit konföderativen staatlichen Strukturen, die in der Geschichte Europas ihre Blütezeit und ihren Niedergang erlebt haben. Bei allen nationalen Mythologien, die sich um militärische Siege in der Vergangenheit oder um selbst erfundene historische Sendungen ("Vormauer des Christentums") ranken, bei aller "Leidkultur" (der Larmoyanz, weil man sich für ein von Europa "ständig verkanntes Opfer" und "immer wieder verratenen jüngeren Bruder" hält) haben diese Völker den Westeuropäern eine Erfahrung voraus: Für sie ist die Akzeptanz supranationaler Strukturen eine gut bekannte historische Erfahrung. Weil sie keine Hegemonialmächte waren, ist es für sie paradoxerweise kein großes Problem, vom hohen Ross ihrer eingebildeten Größe herunterzusteigen und in der eigenen Vergangenheit all das herauszustellen und aufzuwerten, was sie eben als gute Europäer legitimiert, weil sie einst in der polnisch-litauischen Union oder der österreichisch-ungarischen Monarchie supranationale Staatsstrukturen mittrugen.

Finstere Vergangenheit, lichte Zukunft

Dass die EU sich zu einem föderativen Staat entwickelt, müssten die Ostmitteleuropäer ohne Grimm und Gram begrüßen, aus ihrer Geschichte wissen sie, dass sie alleine in Europa nicht bestehen können. Schon im Herbst 1940, nachdem die Briten in der "Schlacht um England" die deutsche Luftwaffe abgewehrt hatten, schrieb ein polnischer Offizier, dessen vergilbtes Heft jetzt auf meinem Warschauer Schreibtisch liegt, in einem schottischen Lager seinen Entwurf für die "Vereinigten Staaten Europas". Die Perspektive einer Res Publica Europeana ist real und dennoch befremdlich - weniger für die "Neuzugänge" aus Ostmitteleuropa, als vielmehr gerade für die Ex-Großmächte. Die britische Reaktion auf den Entwurf der Grundrechtecharta, die in Nizza als Auftakt zu einer "Bill of Rights" - einem Katalog der europäischen Grundwerte - vorgelegt werden soll, zeigt, dass der Abschied vom Nationalstaat gerade den "Alteuropäern" schwerer fällt als denjenigen Nationen, die in ihrer Geschichte durch die europäischen imperialen Mächte schwer gezeichnet wurden. Die Londoner "Times" nannte das Kind beim Namen, als sie schrieb, die Grundrechtecharta habe weniger mit dem Streikrecht, dem Verbot der Todesstrafe oder dem Kinderschutz zu tun, sondern "damit, das rechtliche Fundament zu einer Föderation der europäischen Staaten zu schaffen". Sie stelle zudem einen direkten Angriff auf den angelsächsischen Kapitalismus und die britische Gewerkschaftsreform dar.

Das Vorspiel zu einer "europäischen Verfassung" darf also nicht viel mehr sein als ein unverbindlicher "Schaukasten" frommer Wünsche der Europäer? Nicht nur auf den britischen Inseln kann man der Auffassung begegnen, die EU als ein staatsähnliches "Gebilde" wäre wieder ein "monstro simile", wie das Heilige Römische Reich schon einmal genannt wurde: ohne klare politische und demokratische Identität, obgleich es als Staatenverbund bereits in den Römischen Verträgen seine Verfassung hatte. Nur entwickelt sich die EU unausweichlich auch zu einer Gemeinschaft der Unionsbürger, selbst wenn sie immer noch ein "nichtstaatliches" Konstrukt ist. Ist aber eine supranational-europäische Demokratie überhaupt möglich? Die Unterstützung der Europäer für das Straßburger Parlament nimmt doch ab, 1979 gingen noch 62 Prozent zur Wahl, 1999 nur noch 49. Man könnte auf die EU Hegels Sottise anwenden, der sagte, Deutschland sei kein Staat mehr, denn "was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr". Ulrich K. Preuß hielt dagegen, dass im Unterschied zum Heiligen Römischen Reich, das seit dem Dreißigjährigen Krieg auf dem Sterbebett lag, die EU in ihrer Jugendfrische blüht.

Die "finale" Gestalt der EU als eine föderative "Republik Europa" ist mehr als nur eine "deutsche Utopie", auf die im "Merkur" Karl-Heinz Bohrer vor dem Hintergrund der "europäischen Differenzen" spöttisch hinweist. Mag sein, dass die deutsche, die französische und die britische Rechtsphilosophie so stark differieren, dass manche ihrer juristischen Grundbegriffe fast unübersetzbar sind oder zumindest sehr langer Umdeutungen bedürfen: Föderalismus, governance, citizenship, Liberalismus. Trotzdem sind ja auch diese juristischen Traditionen und Philosophien wandelbar, selbst wenn Franzosen, Deutsche oder Briten ihre eigenen Traditionen zu verabsolutieren geneigt sein mögen.

Der Punkt ist, wie schnell der Entnationalisierungsprozess in den Köpfen der Alteuropäer voranschreitet. Wir, die "jüngeren Europäer" jenseits des heutigen Limes an Donau und Oder, sind nicht das Problem. Für uns ist sogar ein europäischer Patriotismus vorstellbar, den erwandern wir uns auf den Highways von Warschau, Tallin, Budapest bis Lissabon, wenn wir plötzlich Gemeinsamkeiten zwischen polnischen "Repatrianten" aus Lemberg, die heute im ehemals deutschen Breslau leben, deutschen Vertriebenen, die im Rheinland landeten, und portugiesischen "Retornados" entdecken, die, aus Angola vertrieben, 1974 irgendwo in Europa strandeten.

Eine deutsch-portugiesisch-polnische Debatte, wie sie kürzlich im Lissaboner "Goethe-Institut" veranstaltet wurde, kann demnach jederzeit z.B. im Polnischen Institut in Wilna wiederholt werden, und Grass, Antunes oder Konwicki überwölbt dieselbe barock gewundene Rationalität, die in Europa seit dreihundert Jahren mit der cartesianisch linearen wetteifert. Auch in Polen gehört es mittlerweile zum guten Ton, auf die Eurokraten zu schimpfen: auf den Irrsinn der Agrarpolitik oder die Vetternwirtschaft der "Alteuropäer", die sich - siehe Sachsen - auf krummen Wegen aus Brüsseler Kassen bedienen. Man ahnt, dass dieses Europa nicht funktionieren kann, und zugleich ist man zuversichtlich, dass es "irgendwie" funktioniert, auch mit uns. Schließlich ist Europa mehr als seine Bürokratie.

Es genügt ein Blick in Dirk Schümers Buch "Das Gesicht Europas", um als Kandidat zu diesem verrückten Verein Mut und Zuversicht zu gewinnen. Das ist es: Ein Europa, das ein gelebter Widerspruch in sich selbst und dennoch eine entwicklungsfähige Gemeinschaft ist, die nicht durch die Vorherrschaft einer Nation konstituiert wird. Schümer spricht einem Ostmitteleuropäer aus dem Herzen, wenn er der EU eine radikale Schocktherapie empfiehlt: die Streichung der absurden Agrarsubventionen, dafür einen richtigen "Aufschwung Ost" - von Estland bis Albanien -, die Aufwertung des Europaparlaments, die Direktwahl - wie es schon Joschka Fischer wollte - des Kommissionspräsidenten, die Verringerung der Zahl der Kommissare und der Amtssprachen, mit einem Wort - weg von der aufgeblasenen Egomanie welker Ex-Großmächte und der eifersüchtigen Geltungssucht der Kleinen.

Mit einem Bruchteil der eingesparten Mittel ließen sich dann viele identitätsstiftende europäische Kulturprojekte verwirklichen: ein europäischer Literaturpreis, eine Übersetzer-Akademie (für die das Deutsche Polen-Institut mit Karl Dedecius' grandiosem Übersetzungsprogramm Pate stehen könnte), eine mobile europäische Oper, eine Europa-Elite-Universität, außerdem die Restaurierung europäischer Kulturdenkmäler - mit unzähligen noch immer sichtbaren Kriegsnarben schreit Ostmitteleuropa geradezu nach einem kulturpolitischen "Generalplan Ost", der diesen Landstrich unseres Halbkontinents saniert und aufwertet.

Die dumme Arroganz des Westens

Es ist schön, dass endlich einer die Hinhaltetaktik gegenüber den EU-Trittbrettfahrern im Osten beim Namen, das heißt eine Schande nennt. "Was seit 1989 in Europa geschieht", schreibt Schümer, "ist eine fundamentale Ungerechtigkeit, bei der die Reichsten immer bessere Argumente finden, um den Ärmsten nichts abzugeben und um sich sogar noch - als billige Arbeitskräfte, als williger Absatzmarkt - an ihnen zu bereichern. Menschen mit historischem Bewusstsein müssen die zögerliche Öffnung der reichen EU für die materiell armen Vettern unwürdig finden." Für unsereinen in Prag oder Warschau ist es ein Labsal zu lesen, dass "das reiche, oft so abgestumpfte Westeuropa den Beitritt dieser Länder zu seiner selbstvergessenen Versorgungsgemeinschaft" gar nicht verdient habe. Westeuropa hat uns durchaus verdient - es ahnt auch, wie und warum und zögert deswegen mit der Öffnung seiner Festung. Trotzdem wird es sich öffnen müssen. Immer wieder um einen Spalt - so war es 1999 in Berlin und Helsinki, und so wird es in Nizza sein.

Daher ist es verständlich, dass man jetzt in Warschau oder Prag keine Titelgeschichten schreibt, "Warum wir Europa lieben". Wir lieben es doch alle! Und erfüllen wie in Grimms Märchen alle uns von unserer Stiefmutter aufgetragenen Arbeiten. Doch wir werden noch die blaue Fahne schwenkend auf dem Ball erscheinen - und dann wehe den bisherigen Europa-Autisten.

 
 
 
 
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