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Das Kabinetts-Karussell (24. 11. 2000)

Das Kabinetts-Karussell

Ein Minister nach dem anderen verlässt Schröders Mannschaft - Wackelkandidaten sind Walter Riester und Andrea Fischer

Von Hans-Jürgen Leersch und Wulf Schmiese

Es könne, sagte Gerhard Schröder über seine Kabinettsmannschaft, "immer sein, dass der ein oder andere eine andere Perspektive entwickelt". Das war am letzten Sonntag. Vier Tage später platzte die neue "Zeit"-Perspektive für Kulturminister Michael Neumann wie eine Bombe ins herbstliche Berlin. Der Kanzler ist unter Druck. Das Personalkarussel im Kabinett dreht sich in schwindelerregendem Tempo, und die rot-grüne Koalition ist zerstritten. Nach Lafontaine, Hombach, Müntefering und Klimmt ist der Abgang Naumanns der fünfte in Schröders Mannschaft, die mit Riester und Andrea Fischer noch weitere unsichere Kandidaten hat.

Schröder will nicht grimmig schauen, als er den Fortgang von Naumann zu verkünden hat. Er lächelt tapfer, als er am Donnerstag morgen im Saal des Kanzleramtes erscheint. Dazu legt er den Kopf schräg und zieht die Brauen hoch. "Ist was?", fragt diese Schröder-Mimik. Wenn die Morgensonne nicht so kräftig von Osten her ins Foyer schiene, dann käme der Hausherr des Kanzleramts völlig unverkniffen rüber.

So blinzelt er dem grellen Licht entgegen und stellt sich staunend, dass "so viele" Journalisten gekommen seien. Und das nur, um zu erfahren, was ja ohnehin schon in der Zeitung stehe. Natürlich verlasse Michael Naumann "aus rein persönlichen Gründen" die Regierung zum Jahresende und es gebe "nicht den geringsten Grund in eine andere Richtung zu denken", sagt Schröder. Ja, er bedaure diese Entscheidung sehr. Die Zusammenarbeit sei angenehm und schön gewesen, phrast der Kanzler.

Das Zeugnis, das Schröder Naumann ausstellt, soll für ihn selbst gelten. Der Kulturstaatsminister habe "der Kultur in der Bundespolitik einen Ort gegeben, einen guten dazu", resümiert Schröder. "Es ist viel geblieben von seiner Arbeit, auf das wir aufbauen können." Und als hätte es jemand vergessen, erinnert Schröder daran, wessen Idee dieses neue, früh verlassene Amt war: "Ich habe nichts von meiner Entscheidung zurückzunehmen."

Das ist auch nicht nötig, denn Naumann war einer der wenigen Aktivposten im Kabinett. Bereits im Wahlkampf machte sich die Berufung des Verlegers in Schröders Schattenmannschaft bezahlt: Der Niedersachse, bis dato stark als Hannoveraner Landespolitiker, weniger als Bundespolitiker und schon gar nicht auf der Weltbühne präsent, präsentierte mit Naumann einen Mann mit internationalen Erfahrungen, einen Weltgeist gegen die immer krititisierte Kohlsche Spießbürgerlichkeit, die aber dem sozialdemokratischen Stallgeruch nicht unähnlich war.

Schröder, der seine "Neue Mitte" nie mit Inhalten füllen konnte, brauchte personelle Aushängeschilder. Wie wichtig dem Kanzler der Kulturmann war, zeigte sich direkt nach der Bundestagswahl. Seiteneinsteiger Naumann hatte kein Abgeordnetenmandat und konnte kein Staatsminister im Kanzleramt werden, da das Gesetz das Mandat als Voraussetzung vorschrieb. Schröder ließ die Vorschrift ändern, was ihm von Opposition als "Lex Naumann" angekreidet wurde und bis heute verfassungsrechtliche Probleme aufwirft.

Der Kanzler wusste, warum. Bereits kurz nach Antritt der rot-grünen Koalition legte Naumann an allen Fronten gleichzeitig los. Alles, was Konservativen weh tun musste, packte der Kulturminister besonders gern an: So nahm er die Vertriebenenverbände in den finanziellen Schraubstock, strich Museen und Organisationen per Federstrich zusammen. Den Auslandssender "Deutsche Welle" wolle er zu einem Regierungssender umfunktionieren, so jedenfalls Kritiker Naumanns. Den Sozialdemokraten Naumann und den ehemaligen CDU-Abgeordneten und heutigen Intendanten Dieter Weirich verband nur die gegenseitige Abneigung.

Durch Naumann beherrschte Rot-Grün auch die Berliner Hauptstadtkultur. Der Minister mischte sich selbst in Details ein. Wieder gegen die Opposition ging sein starkes Engagement für das Holocaust-Mahnmal in Nähe des Brandenburger Tores. Naumann füllte die "Berliner Republik", jenen bislang undefinierten Begriff, wenn nicht mit Inhalten, so doch mit Symbolik. Und trat in Talkshows und Streitgesprächen auf, als sei er dafür geboren. Widerspruch aus der Opposition hatte Seltenheitswert. Naumann tourte selbst dann fast ungehindert durch die Republik, als er die Kulturhoheit der Länder als "Verfassungsfolklore" kritisierte.

Doch jetzt ist Naumann von Bord des Schiffes gegangen, "auf dem er sich nie besonders wohl fühlte", wie ein Unionsabgeordneter glaubt. Der weiteren Karriere will Schröder nicht im Wege stehen. "Schließlich ist es ein Traumjob, Herausgeber der `Zeit´ werden zu können", sagt der Kanzler und lächelt gütig. Er bemüht sich, dem Verlust das beste abzugewinnen, wie ein Pastor, der vom Jenseits predigt. Es sei überhaupt "nicht so falsch", wenn zwischen Politik, Kultur, Journalismus einen Austausch gebe. "Ich wünsche Michael Naumann, ich wünsche uns allen eine gute Zeit."

Für Naumann dürften die Zeiten besser werden, für Schröder nicht. Nach Verkehrsminister Reinhard Klimmt ist Naumann der zweite Verlust binnen einer Woche. Klimmt konnte er verschmerzen, Naumanns Weggang ist wie eine Amputation. Vor wichtigen Landtagswahlen und angesichts einer sich holprig stabilisierenden Opposition muss Schröder registrieren, dass sein Koalitionspartner selbstbewusster wird. Fraßen ihm die Grünen früher auf der Hand, so erlebt Schröder ("Regieren macht Spaß") den Partner jetzt von einer anderen Seite: Es gibt Widerspruch.

Die Rentenreform ist umstritten, im Tarifvertragsrecht präsentiert sich Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch liberaler als die FDP je war. Der Streit um das neue Versammlungsrecht könnte sich als Sprengsatz für die Koalition entpuppen, das die Grünen keine Einschränkungen wollen. "Wäre es bei uns so zugegangen, wäre es auseinandergekracht", weiß CSU-Geschäftsführer Peter Ramsauer.

Doch noch halten die rot-grünen Schweißnähte. Schröders Mann fürs Grobe, Fraktionschef Peter Struck, lässt es aber an Warnungen nicht fehlen: Erst sinnierte er über die SPD-Chancen einer absoluten Mehrheit im Jahr 2002, danach ließ er Sympathien für die FDP erkennen. Die Liberalen seien "interessanter" geworden, orakelte Struck, wohl wissend, dass FDP-Chef Wolfgang Gerhardt und seine Mannen lieber heute als morgen ins Berliner Regierungsschiff einsteigen würden. Schröder gibt sich in der Öffentlichkeit noch als Übervater von Rot-Grün und meint, der Streit "regt mich nicht so auf".

Doch Struck, der wie ein Feuerwehrmann die lodernden Streitfeuer in Ausschüssen und Gremiensitzungen löschen muss, kann auch durch spitze Bemerkungen nicht verdecken, dass Schröders Krisenmanagement doppelt versagt hat: Dass Klimmt nicht mehr zu halten war, erkannte der Regierungschef zu spät. Und auch bei Naumann bestimmte der Kanzler das Geschehen nicht: Wärend die Regierung die Rücktrittsgerüchte noch dementierte, gab das Büro des neuen Kulturministers Julian Nida-Rümelin den Termin von Schröders Pressekonferenz bekannt. Auf Fragen reagiert Schröder hilflos: Man habe Rücksicht nehmen müssen, etwa auf den Holtzbrinck-Verlag, der die "Zeit" herausgibt. Also kein Missmanagement, sondern: "So ist das Leben."

Für die CDU sieht Schröders Kabinett aus wie die Besatzung des "Big Brother"-Containers mit einem "undurchschaubaren Rein und Raus", sagt Generalsekretär Laurenz Meyer. Angezählt wirken Rentenminister Walter Riester und Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Noch hält Schröder dagegen: "Ich plane keine Kabinettsumbildung." "Basta" sagt er diesmal nicht.

Ministerrücktritte sind meist eher trostlose Veranstaltungen - politische Leichenbegängnisse mit den üblichen Kondolenzbezeugungen. Der Abgang von Michael Naumann zeigt jedoch, dass es auch anders geht. Solch eine schöne Leiche, politisch gesehen, gab es selten, nicht nur was die Menge der Abschiedsworte anbelangt. Man muss wohl tatsächlich der erste bundesdeutsche Kulturminister gewesen sein, um die politisch-kulturelle Funktionselite noch im Weggehen derart zu inspirieren.

Eine "Kluft von der Größe des Grand Canyon" sieht Laurenz Meyer, der CDU-Generalsekretär, nachdem Naumann weg ist - alllerdings nur bezüglich des Abstands zwischen Erwartung und Erreichtem. Dabei hat Naumann sogar einen "Luftröhrenschnitt" ausgeführt, wie Bernd Kauffmann, Präsident der Stiftung Weimarer Klassik sagt, nämlich zugunsten eines ungehinderten Geldflusses in die europäische Kulturstadt. Thomas Goppel von der CSU hingegen behauptet, Naumanns einziges Verdienst sei "die Förderung der Hauptstadtkultur" gewesen, und überhaupt sei Naumann ein "Kulturzentralist" gewesen. Im Grunde gehöre dieser Posten abgeschafft. Das Wort von der "Kulturfolklore" wird dem Dahingegangenen auch vom grünen NRW-Kultusminister Michael Vesper nicht verziehen. Mit solchen "hanebüchenen Missverständnissen" müsse Schluss sein.

Für Norbert Lammert, den leitenden CDU-Bundeskulturpolitiker, ist Naumann ohnehin "ein ratloser Artist, der sich aus der Zirkuskuppel abseilt", und außerdem hat er einen Scherbenhaufen hinterlassen. CDU-Vize Christian Wulff spricht gar von einem "Zerbröselungsprozess", allerdings eher kabinettstechnisch als kulturpolitisch.

Doch in Wirklichkeit hat Naumann "durch sein Engagement und durch seine Kompetenz wesentlich dazu beigetragen, dass Kulturpolitik einen höheren Stellenwert erhalten hat. Er war kein Kulturverwalter, sondern kreativer Gestalter und hartnäckiger Interessenvertreter der Künstler." Dass das Eckhardt Barthel, der Kultursprecher der SPD-Fraktion, sagen würde, hatte man fast erwartet. Aber war Naumann wirklich hartnäckig genug? Die Genossin Elke Leonhard, Ex-Kulturauschusschefin, hätte sich "ein bisschen mehr preußische Pflichterfüllung gewünscht". Dann müsste jetzt Christoph Stölzl, Berlins Kultursenator, nicht bedauern, dass ein "Freund und Förderer der Berliner Kultur" fort ist, einer, der sich als "intelligent, klug, tolerant und liebenswert" erwies, wie der künftige Opernintendant Udo Zimmermann weiß. "Analytische Brillanz" hat er auch noch, sagt Goethe-Institutschef Hilmar Hoffmann. Außerdem hatte Hoffmann mit Naumann etwas gemeinsam: "Wir mochten uns nicht." MZ


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Channel:Politik
Ressort:Deutschland
Erscheinungsdatum:24. 11. 2000