FEUILLETONFreitag, 23. Februar 2001
 Bayern Seite 15 / Deutschland Seite 15 / München Seite 15

Jenseits der Lebenslügen

Die Schließung der Kulturinstitute in Deutschland und Frankreich ist politisch unvernünftig

Vielleicht wäre ein bisschen Aufgeregtheit nicht schlecht. Das Eis des Kalten Krieges, auf dem die deutsch-französischen Beziehungen mitsamt ihren Institutionen einen ganzen Nachkrieg lang gebaut wurden, schmilzt langsam, aber sicher weg. Kleinere Risse waren neulich in Nizza zu besichtigen, als Deutsche und Franzosen sich um die Hegemonie in Euro-Land stritten. In den Hotelfluren soll es lautstark zugegangen sein. Die einen waren politisch groß und gleichberechtigt, entsprechend ihren demografischen Daten, ihrer Zahlungsmoral und ihren föderalen Plänen. Die anderen bestanden auf ihrer althergebrachten Führerposition, mussten am Ende aber einsehen, dass mit bonapartistischen Allüren das neue Europa nicht zu machen ist. Auch in Paris haben es ein paar Leute gemerkt: Die Zeiten sind vorbei, in denen die selbsternannte Modell-Nation sich als moralischer Dauerweltkriegssieger, politischer Universalpräzeptor gebärden konnte. Die alten Ordnungsvorstellungen gehören der Vergangenheit an, auch die deutsch-französischen.

Die Gründe dafür sind hinlänglich bekannt. Erstens haben die neuen politischen Eliten biografisch mit den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs nichts mehr zu tun, ihr politischer Erfahrungshorizont ist von anderen Ereignissen geprägt. Zweitens hat sich die politische Großwetterlage seit 1989 fundamental gewandelt. Unter anderem ist damit auch die französische Besatzung Deutschlands zu Ende gegangen. Und das heißt drittens, auch wenn es einigen vielleicht noch nicht ganz klar ist, dass die seit den 60er Jahren geltenden politischen Rahmenbedingungen im deutsch-französischen Verhältnis in zentralen Teilen entfallen sind.

Im nachhinein werden sogar die kleinen Lebenslügen offen benennbar, auf denen die ‚Aussöhnung‘ beruhte. Auf deutscher Seite bestand die kleine Lüge, grob gesprochen, darin, im Verhältnis zu Frankreich jede Politik ‚nationaler Interessen‘ standhaft zu verleugnen, und lieber schloss man einen Kompromiss zu viel als einen zu wenig. Auf französischer Seite bestand sie darin, eine ungewohnte Freundschaft, allen sturen Ressentiments, Arroganzen und eingefleischten Germanophobien zum Trotz, zu feiern, wobei unter der Hand allerdings ausgemacht war, dass die Deutschen den Löwenanteil dafür zu übernehmen hätten. Die einen durften also die politisch maßgeblichen Tischreden halten, während die anderen mit organisatorischer Effizienz für das gemeinsame Dekor sorgten. Die politische Nichtgleichberechtigung war das offene Geheimnis der beiden Freunde. Und angesichts der langen Reihe blutiger Katastrophen war das System eine vernünftige, erfolgreiche Lösung. Man hätte es nicht besser machen können. Von Adenauer bis zu Kohl hat es gehalten, einen ganzen Nachkrieg lang.

Viel weiter aber kann es nicht halten, jedenfalls nicht in den bisherigen Formen. Einfach deswegen nicht, weil sämtliche politische Voraussetzungen und Erblasten, mit denen die Nachkriegsgeneration zurechtkommen musste, verschwunden sind, auch aufgrund der erfolgreichen ‚Aussöhnung‘. Die Feindschaft, die es zu überwinden galt, ist tatsächlich nicht mehr vorhanden. Das ist ein zwar wunderbares Resultat, nur hört damit die Geschichte und die Politik noch nicht auf. Mit demselben Resultat ist auch dieraison d’êtreverschwunden, die zuramitiéund zu den entsprechenden Kompromissen im Umgang miteinander gezwungen hat. Was spätestens seit 1990 also zur Debatte hätte stehen müssen, ist die Neujustierung der alten Partnerschaft. Sie lässt sich nicht länger auf die gegenseitige Angst vor den alten ‚Dämonen‘ gründen. Dringend gefragt wäre ein neuer, intensiver Dialog, offen ausgetragene Konflikte eingeschlossen.

Goethe grollt

Und genau hier, wo es um Erneuerung geht, beginnen die bequemen Versäumnisse der Gegenwart. Sie glaubt offenbar, das Ancien Régime würde sich freundlicherweise einfach von selbst fortsetzen. Wie sieht es denn mit der ‚Freundschaft‘ aus, seit keine bedrohlichen politischen Lagen und keine biografischen Traumata mehr dazu zwingen? Die Antwort lässt sich an ein paar Zahlen ablesen, auf die jüngst auch Marie-Claire Hoock in Paris aufmerksam gemacht hat. Und demnach sieht die Lage wie folgt aus: In Deutschland lernen zur Zeit noch genau 14 Prozent eines Jahrgangs Französisch, während in Frankreich die Zahl der Deutschlerner mittlerweile auf unter zehn Prozent eines Jahrgangs geschrumpft ist. Die Einschreibungen an den germanistischen Instituten in Frankreich sind in den letzten beiden Jahren um satte 50 Prozent, in Einzelfällen sogar um 60 Prozent zurückgegangen. Und nachhaltig unterstützt wird dieselbe abstürzende Tendenz von der Schließungswelle, die gerade über die deutschen und französischen Kulturinstitute hinwegfegt. Von deutscher Seite ist dasGoethe-Institut in Toulouse geschlossen worden, von der Schließung unmittelbar bedroht sind die Häuser in Lille und Colmar. Die Zukunft des Goethe-Instituts in Bordeaux ist ungewiss. Auf der französischen Seite sieht es nicht besser aus. Das renommierte Heidelberger Institut français ist unsanft entschlafen, allen Protesten und Petitionslisten zum Trotz. Von der Schließung unmittelbar bedroht sind sage und schreibe die Hälfte aller Instituts françaises in Deutschland.

Die Botschaft ist nicht schwer zu interpretieren: Die ehemals privilegierte Partnerschaft ist keine mehr. Auf beiden Seiten hat sie der sogenannten ‚Normalität‘, das heißt der großen Indifferenz Platz gemacht. Der Nachbar ist zu einem Bekannten unter ferner liefen geworden. So ist das eben in globalisierten Zeiten: Wieso soll man sein Geld in deutsch-französische Bibliotheken, Sprachkurse, Symposien, Filmreihen, Hausmieten und das entsprechende Personal stecken? Erstens sind sie politisch nicht mehr vordringlich, und zweitens lassen sie sich ja auch durch fleißiges Internetsurfen ersetzen.

Das Argument, das durch die Pariser und Berliner Führungsetagen geistert, mag dem Finanzminister vielleicht Freude machen. Es hat nur einen kleinen entscheidenden Nachteil: Es ist die politische Kurzsichtigkeit in Person. Auf Dauer läuft die gegenwärtig vorangetriebene Entwicklung nämlich auf genau zweierlei hinaus. Zum einen beraubt man das europäische Einigungsprojekt seiner vitalen Grundlage, weil man dessen Kern preisgibt, nämlich dieamitié franco-allemande. Ohne Sprach-, Politik- und Geschichtskenntnisse, ohne Dialog, Begegnungen und Diskussionen, kurz, ohne ‚Kultur‘ und die Häuser, in denen sie stattfinden kann, ist sie nicht zu haben.

Zum anderen wird die staatlich geförderte Dummheit über kurz oder lang zu ‚Missverständnissen‘ und Vorurteilen nationaler Provenienz führen, denen gegenüber die bisherigen ‚Missverständnisse‘ mit größter Wahrscheinlichkeit nette Peanuts gewesen sein werden. Die Nationalismen sind nämlich so wenig verschwunden wie die Nationalstaaten. Und sie lassen sich nur dadurch bewältigen, dass sie offen und informiert bearbeitet werden. Die Palette reicht hier vom Beamtenrecht über Staatsangehörigkeitsregelungen bis zu Industrienormen. Man muss den wechselseitigen Analphabetismus also nur lang und intensiv genug vorantreiben, also nur das tun, was man momentan sowieso schon tut, um damit Situationen zu programmieren, in denen Deutsche und Franzosen sich wie Ochs und Esel begegnen müssen. Sprachlos, unverständlich, fremd. Sonderlich spannend oder neu wäre das nicht.

CLEMENS PORNSCHLEGEL

Hinweis:
übergeordnete Folder
Titel
ArtikelSZ vom 23.02.2001 - Feuilleton
siehe auch
DatumSeiteRessortKolumneGröße
03.03.2001Bayern Seite 20Feuilleton 75 Wörter
ArtikelQuelle:Süddeutsche Zeitung
Titel:Zum Bleiben bestellt
Goethe-Institut Toulouse gerettet
 Das Goethe-Institut in Toulouse, dessen Schließung in unserem Artikel „Jenseits der Lebenslügen – Die Schließung der Kulturinstitute in Deutschland und Frankreich ist politisch ...
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
A011.878.140