SZ AM WOCHENENDE
Samstag, 19. Februar 2000


Bayern Seite RÖM3 / Deutschland Seite RÖM3 / München Seite RÖM3

 

Gebhard Hielscher

Überraschender Bestseller im fernen Osten

Wo Goethe nicht nur gelobt, sondern auch gelesen wird – Selige Sehnsucht nach Faust und Werther in China, Japan und
Korea

Goethe hat Konfuzius besser verstanden als viele Chinesen.“ Den erstaunlichen Satz sprach der chinesische Germanist Zhang
Yushu. Auf einem Goethe-Symposium in Tokio überraschte der Professor der Universität Peking auch mit dem Ausspruch,
„Goethe fühlt, denkt und handelt wie ein chinesischer Mandarindichter und Dichtermandarin“. Das Goethe-Institut Tokio und
das Institut für die Kultur deutschsprachiger Länder der Sophia-Universität hatten ein Dutzend Goethe-Koryphäen aus aller
Welt nach Japan eingeladen, um über die Wirkung des „Weisen von Weimar“ in der Gegenwart zu diskutieren. Dabei stellte
sich heraus, dass Goethe besonders in China und Südkorea eine unerwartet einflussreiche Rolle spielt.

Goethe, erzählt Zhang, habe in den zwanziger und dreißiger Jahren „mit seinem Werther die chinesische Jugend animiert“.
Heute sporne er sie „mit seinem Faust zur Tat und zum Streben an“. Und „in seinen tiefsinnigen späteren Werken können wir
die Vielfalt der menschlichen Gefühle und die Herrlichkeit des Humanismus bewundern“. Resümee des chinesischen
Goethe-Experten: „Mit der Zeit werden immer mehr Chinesen den großen deutschen Dichter kennen und schätzen lernen.“

Dass Zhang nicht übertreibt, zeigte das Referat von Yang Wuneng, Professor an der Sichuan-Universität in Chengdu, von
dessen Werther-Übersetzung aus dem Jahr 1981 fast 1,5 Millionen Exemplare verkauft wurden – ein chinesischer Bestseller.
Der Erfolg hat andere Verlage nicht ruhen lassen, sodass allein seit 1992 mehr als zehn weitere Werther-Übertragungen
unterschiedlicher Qualität auf den Markt drängten. In der Statistik plagiierter Übersetzungen ausländischer Klassiker steht
Goethes Werther nun an erster Stelle.

Für Kim Tschong-Dae, Germanistikprofessor an der Dankook-Universität in Seoul und Präsident der 1982 gegründeten
Goethe-Gesellschaft Südkoreas, ist Goethe eine Art „Religionsersatz“. Sein weltumfassender Humanismus bringe die durch
rapiden Sozialwandel ent-fremdeten Bürger zusammen. Goethes Werke seien „für jedes Geschlecht von Bedeutung, für jedes
Alter lesbar“ und besäßen „kaum deutschtümelnde Ele-mente“. Sie „sind gleich einem Ur-Ei kosmopolitisches Gemeingut der
Mensch-heit“.

Kims Beschäftigung mit Goethe begann mit dem Werther während des Koreakriegs. Damals war er Gymnasiast, eine
Übersetzung kursierte unter den Schulkameraden. Die Leiden des jungen W. schienen „nicht anders zu sein als die Leiden eines
jungen koreanischen Schülers“. In der „konfuzianistisch disziplinierten Gesellschaft waren die Sitten so streng“, erinnert sich
Kim, dass ein koreanischer Schüler eine Schülerin „nicht ohne Scham- oder Schuldgefühl ansprechen“ konnte. Werther wurde
zum „Emotionsaufwiegler“, die „liebenswürdige Charlotte“ kam den Schülern „als eine Erlösung vor“. Jeder hätte sie gern zur
Freundin gehabt. Kim hat später im „Land Lottes und Werthers“ studiert, in Heidelberg. Ein koreanischer Geschäftsmann taufte
sein Unternehmen gar „Lotte“ und trug so auf seine Weise zur Popularisierung der Goethe-Gestalt bei.

Faust I wurde erstmals 1956 vollstän-dig ins Koreanische übersetzt, Faust II folgte 1963 (Teilübersetzungen gab es schon
1920 und 1939 während der japanischen Kolonialherrschaft in Korea). Wie Rhie Won-Yang, Professor an der
Hanyang-Universität in Seoul, berichtet, besitzt die dortige Nationalbibliothek inzwischen 54 Faust-Ausgaben. Rhie hat auch
die Geschichte koreanischer Faust-Inszenierungen zurückverfolgt. Danach hatte Faust I 1966 in Seoul seine Büh-nenpremiere.

Bis dahin gab es fast keine Theatertradition im europäischen Sinn. Rhie macht dafür den Konfuzianismus verantwortlich. Dessen
hierarchische Ordnung und festes Sozialgefüge hätten „keine öffentliche Auseinandersetzung zwischen einigermaßen
gleichberechtigten Partnern“ erlaubt. In den Folgejahren habe es sieben weitere Inszenierungen und eine Parodie gegeben. Titel:
„Faust in Bluejeans“.

Bei der vorläufig letzten Aufführung, einer szenischen Lesung im Rahmen des Goethe-Festivals im Frühjahr 1999, habe man
sich erstmals an den Faust II gewagt – „ein Theaterereignis“ – und obendrein noch zwei weitere Goethe-Stücke aufgeführt,
„Stella“ und „Iphigenie“. Selbst die Veranstalter waren über den Ansturm des Publikums überrascht, berichtet Rhie. Kim
bestätigt: „Das Festival verlief unerwartet erfolgreich, in den letzten Tagen war das Theater ausverkauft.“

In Japan sei die Rezeption Goethes schon hundert Jahre alt, sagt der Leiter des mitveranstaltenden Instituts der
Sophia-Universität, Naoji Kimura. Allein in den letzten Jahren erschienen vier neue Faust-Übersetzungen (45 sind es
insgesamt). „Dennoch ist meines Erachtens die Faust-Begeisterung in Japan vorbei“, meint Kimura. Der prominente
Goethe-Forscher interessiert sich jetzt für die „Wahlverwandtschaften“, die in Japan aber „weit weniger gelesen werden als der
Werther“.

Japan hat auch viel von seiner Beschäftigung mit Goethe an Korea vermittelt. Kim weist darauf hin, dass fast alle frühen
koreanischen Goethe-Autoren während Tokios Kolonialherrschaft über die Halbinsel (1910 bis 1945) in Japan studiert haben.

Nach der Befreiung war im Süden westliche Erziehung gefragt. Chinesische Klassik, vor der Annexion durch die Japaner
tonangebend, galt nun als „veraltet“, sagt Rhie. Stattdessen habe man sich mit Goethe beschäftigt, auch mit Shakespeare, aber
mit dem „nicht so intensiv wie mit dem Faust“. Vom chinesischen Einfluss sei nur die Schätzung der Bildung übrig geblieben.
„Bildung wird in Korea noch nicht mit einem Fragezeichen versehen.“ Und Goethe wird wirklich gelesen, nicht nur gelobt.

Er erfand den Begriff der „Weltliteratur“. Goethes nicht nachlassender Erfolg in anderen Kulturen beruht auf seinem Interesse
an der Dichtung aller Zeiten und Völker. Dieses Interesse wird ihm zurückgegeben: Schon 1949 feierte man im koreanischen
Seoul den 200. Geburtstag des Dichters.

Foto: SZ-Archiv

 

 

SZ - SZ am Wochenende
19.02.2000

 

SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
1