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Drei Zeitalter an der Moldau (01. 03. 2001)

Drei Zeitalter an der Moldau

Weltstadt Prag

Von Tanja Dückers

Aus dem „schönsten Goethe-Institut der Welt“, wie mir ein Prager Besucher unbescheiden ins Ohr raunt, treten Vera Chase und ich auf die Straße — mit Blick auf die Karlsbrücke, die Moldau. Vera Chase und ich haben gerade gemeinsam in der Reihe „Tandem“, in der deutsche und tschechische Autoren gemeinsam vorgestellt werden, neue Texte gelesen. Und dabei trafen wir auf altvertraute Gesichter: Lenka Reinerová, letzte große Repräsentantin der deutschsprachigen Literaturszene in Prag, begibt sich mit 83 Jahren noch zu Lesungen des Nachwuches.

In Veras WGsitzen ihr neuer Freund, ihr Ex-Mann sowie der schwule Mitbewohner und ein weiterer Freund fröhlich beeinander. „Ich habe gerade die Liebe meines Lebens getroffen!“ schwärmt Jan und ich betrachte eine Handvoll Fotos von ihm mit Plastikrosen um den nackten Leib geschlungen. „Gibt es viele WGs wie diese hier in Prag?“, frage ich meine Gastgeberin. „Keine Ahnung, ich glaube nicht, nein, nicht viele“, erhalte ich zur Antwort; Vera lacht, wobei der Marienkäfer, den sie sich täglich neu auf die Wange malt, sich zu bewegen scheint. Weitere Fotos: Vera im Teufelskostüm mit roten Hörnern, auf Schrottplätzen, Friedhöfen, fotografiert von Ex-Mann Ron, einem Ami.

Tomasz und ich verteidigen die Inkarnation Amerikas: Los Angeles als futuristische, absurde Stadt, Ron dagegen murmelte nur „L.A. is hell“ und erzählt, wie sehr ihm Prag in den letzten sieben Jahren ans Herz gewachsen ist. „Gibt es wirklich so viele Amis hier?“ will ich wissen. „Ja, aber ich versuche mich von meinen Landsleuten fern zu halten. Ich habe fließend tschechisch gelernt, aber viele Amis hier bilden Communities und leben nicht viel anders als zu Hause, nur vor einer europäischen Kulisse.“

Am nächsten Tag treffe ich Jaroslav Rudis, einen jungen Journalisten, der im „Salon“, einer Literaturzeitschrift, einen Artikel über Vera und meine Veranstaltung geschrieben hat. Jaroslav lebt in éiûkov, einem Bezirk, der, wie er meint, ein bißchen dem Prenzlauer Berg in Berlin vor der Wende ähnle. Es ist ein veritabel heruntergekommenes Arbeiterviertel, das die junge Off-Kultur langsam kolonisiert. „Prag war immer eine Industreistadt“, meint Jaro und lächelt angesichts der rauchenden Schlote. Ein anderes Prag.

In einer kleinen Galerie entdecke ich eine Stilrichtung: „Box Art“ nennt der Purist die Plastiken von aus der Wand ragenden geballten Fäusten. Ähnlich archaisch geht es auch in der Ausstellung „Práce s tìlem“ (Arbeit mit dem Körper) zu. Auch in Osteuropa ist der Körper als letzter Rückzugsort vor der Auflösung des Privaten im Medialen, der Auflösung des Unerklärlichen in der Genetik, der Begrenzung des Lokalen vor der transnationalen Gesellschaft, ein zentrales Sujet in der Kunst. Und doch stoßen Jaro und ich keine hundert Meter weiter auf das „Handyland“, ein Geschäft voller sich drängelnder junger Mädchen in klotzigen Schuhen und bunten Steppjacken.

Es scheint, als würden in Prag drei Zeitalter simultan existieren: Die Kulturavantgarde von einst, die jungen Wilden, die in WGs und Fabriketagen sich selbst erproben und die Pioniere von morgen, bei denen man noch nicht weiß, was sie der Welt von übermorgen neben pinkfarbenen Taschentelefonen und hufartigen Stiefeln vererben werden.


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Channel:Feuilleton
Ressort:Metropolitan
Erscheinungsdatum:01. 03. 2001