Studieren mit Kilt und Ceilidh

Erfahrungen eines deutschen Gaststudenten in Schottland

Von Uwe Simon

ABERDEEN. "Frohgemut schritt er den Berg hinab, zu dem Tal mit dem klaren See. Doch das Tal, es wurd' ihm zum feuchten Grab. Ein blutroter Pfeil ihn niederwarf, ein Pfeil aus den Hügeln von Loch Maree." Leise erstirbt die traurige Stimme der Sängerin. Eine Saite der Harfe zittert wehmütig durch den Raum. Dann ist Stille. Für einen Moment steht die blutige Geschichte Schottlands klar vor Augen, und die Barden und ihre Zuhörer geben sich ihr ganz hin. Die Barden, das sind die Musikerinnen und Musiker vom Aberdeen Folk Club. Die Zuhörer, das sind wir: die Kanadierin Michelle, der Deutsche David und ich.

Es ist zwei Uhr morgens, eine nasskalte Dunkelheit im Juni. Wir sitzen in einem kleinen Hotel im abgelegenen Glen Clova, zwanzig Kilometer südlich von Schloss Balmoral, der Sommerresidenz der britischen Königin. Nebenan feiern die Biologie- und Bodenkundestudenten der University of Aberdeen die gerade bestandenen Prüfungen ihres Studiendaseins. Bis Mitternacht schwangen auch wir die Tanzbeine zu den komplizierten Figuren und wunderbaren Rhythmen der Ceilidhs, einer Art Squaredance. Auf der Suche nach einem heißen Getränk waren wir dann durch einen Seiteneingang in dieses gemütliche Zimmer geraten. Nun sitzen wir hier und lauschen den Balladen der wilden Highlands.

Die Highlands! Kein naturbelassenes Kleinod. Aber eine düster-romantische Fabelwelt. Einer der vielen Gründe, warum ich unbedingt in Schottland studieren wollte.

Vorausgegangen waren 15 Monate intensiver Planung. Die Bewerbungsfrist für ein Auslandsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) endet alljährlich am 31. Oktober. Andere Organisationen haben vergleichbare Stichtage. Bis dahin müssen Vordiploms- oder Zwischenprüfungszeugnis, die Gutachten zweier Hochschullehrer, Lebenslauf und Sprachtest vorliegen. Besonders wichtig ist neben der "akademischen Qualifikation" die ausführliche Begründung, warum man an die betreffende Universität im Ausland will. Dazu gehört eine Liste der Kurse, die man dort belegen möchte. Hilfreich ist, auf erste Kontakte zu Dozenten verweisen zu können. In jedem Fall empfiehlt sich eine Beratung beim Auslandsamt.

Man sollte früh mit den Vorbereitungen beginnen. Will man Genaueres über die Kursangebote der britischen Hochschulen wissen, kann per Brief oder E-Mail das relevante Vorlesungsverzeichnis angefordert oder ein Blick auf die im Allgemeinen informativen Internetseiten geworfen werden.

Irgendwann im Frühjahr stellt sich heraus, ob der Aufwand um ein Stipendium von Erfolg gekrönt ist. Gleichwohl ist es erforderlich, sich schon vorher bei den Wunschuniversitäten um Zulassung zu bemühen, da dies oft bis Ostern erfolgt sein muss. All das sorgt für Stress, übt aber im Umgang mit der Bürokratie!

Als ich mein Zimmer in Hillhead, einem riesigen Wohnkomplex für mehr als 2000 Studierende, beziehe, habe ich denn auch das Gefühl, mir mein Stipendium sauer verdient zu haben. Ohne ist an ein Auslandsjahr sowieso kaum zu denken. Seit der DAAD im letzten Jahr die Zuschüsse für Großbritannien von 1100 auf 700 Mark pro Monat gekürzt hat - zuzüglich Übernahme der Studiengebühren und einer Reisekostenpauschale - muss man hart rechnen. Zumal die Ölstadt Aberdeen inoffiziell als die zweitteuerste der Insel gilt - nach London. Für mein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft mit fünf anderen zahle ich 40 Pfund pro Woche. Das sind im Monat knapp 500 Mark warm. Für großzügigere Räumlichkeiten muss mit bis zu 80 Pfund gerechnet werden. Wohlgemerkt, im Wohnheim! Wer früher kommt und die Lokalzeitungen durchforstet, hat gute Chancen, billiger zu wohnen.

Im Mietvertrag, der noch von Deutschland aus abgeschlossen wird, hatte ich angegeben, mit mature students, älteren Semestern, zusammenwohnen zu wollen. Eine Kommilitonin, die das übersehen hatte, klagte: "Ich komme mit den 16- bis 17-Jährigen in meiner WG überhaupt nicht klar!" Man darf nicht vergessen, dass die Briten ihr Abitur früher ablegen und keinen Zivil- oder Wehrdienst leisten müssen. Gewöhnungsbedürftig ist der zum Teil ungeheure Alkoholkonsum der Universitätsneulinge. Eigentlich ist dauernd Party. Wer Ruhe benötigt, sollte sich ein Zimmer abseits vom Trubel wählen.

Weiterhin kann man ankreuzen, ob catering, Verpflegung, gewünscht wird. Davon ist abzuraten. Nicht wegen des Essens, das nicht viel schlechter ist als in deutschen Mensen. Es sind die starren Essenszeiten, die eine Teilnahme am Campusleben arg einschränken. Und der Campus hat viel zu bieten. Paragliding und Rudern, Celtic Society und Judo, Whiskytrinker und Debattierer: Für alles gibt es von Studenten organisierte Clubs. Da fällt es manchmal nicht leicht, sich morgens aus dem Bett zu quälen.

Der Hörsaal ist dennoch gut gefüllt. Um mich herum sitzen vor allem Schotten. Einige Engländer, die in Statistiken oft als Ausländer gelten, Schweden, Thailänder und Deutsche sind ebenfalls im Auditorium. Der Kurs heißt Environmental Pollution, Umweltverschmutzung. Vorne erzählt Graeme Paton, dass bei der Reinigung eines mit aromatischen Kohlenwasserstoffen belasteten Bodens unter anderem Bodenfeuchte, -temperatur und -belüftung berücksichtigt werden müssten. Graeme lehrt Bodenkunde. In seinem Zimmer hängen Passfotos aller Studierenden, die seine Kurse besuchen. Das ist durchaus üblich. Die Dozenten versuchen auf diese Weise, sich die Namen ihrer Kursteilnehmer zu merken. Selbst bei großen Kursen wirkt die Atmosphäre daher meist ein wenig familiärer als in Deutschland.

Wenn er spricht, ist Graeme klar als Schotte zu erkennen. Hin und wieder ist es schwer, seinem breiten Dialekt zu folgen. Dafür versteht er mich auch nicht immer. Eine Frage muss ich dreimal stellen. Erst als eine Kommilitonin meine Aussprache korrigiert, begreift Graeme, was ich von ihm will. Indigenous, einheimisch, wird eben auf der dritt- und nicht auf der vorletzten Silbe betont. Wer kein Verständnis für die Probleme von Ausländern hat, sollte selber einmal in die Fremde gehen. Dabei ist die Sprache nur eine von vielen Hürden!

Die Vorlesung ist beendet. Ich schlendere gemütlich die High Street entlang, vorbei an alten Granithäuschen, in denen jetzige und ehemalige Dozenten leben, vorbei an einem Buchladen, Bankfilialen, dem philosophischen Institut und einem kleinen Geschäft, das von der Student Union, einer Art AStA, geführt wird. Das Kopfsteinpflaster der High Street ist denkmalgeschützt. Teile sollen so alt sein wie die Universität. Das wären mehr als 500 Jahre. An dieser zentralen Campusstraße liegt das Herz der Aberdeen University: King's College, 1495 vom Bischof William Elphinstone gegründet. Auf dem Rasen davor tummelt sich der wissenschaftliche Nachwuchs. Ich hole mir eine Instant-Suppe und einige Erdnussbuttertoasts (man wird genügsam!) aus der katholischen Kapelle gegenüber und setze mich zu einer Gruppe "Internationaler". Es gehört zu den Gesetzen der Gruppendynamik, dass sich Gleich zu Gleich gesellt. Die schottischen Studenten sind nett und hilfsbereit. Aber im vierten Studienjahr, in dem ich dazu gestoßen bin, haben die meisten längst feste Zirkel um sich gezogen. Viel Einsatz ist nötig, will man mehr als oberflächliche Bekanntschaft.

Während ich an meinen Broten kaue, vergleiche ich mein Studium in Aberdeen mit dem in Deutschland. Zunächst die Betreuung: Jeder Dozent in Aberdeen hat sich um eine bestimmte Anzahl Studierender zu kümmern. Somit ist jeder Studienberater. Nicht alle füllen diese Rolle zufriedenstellend aus. Dennoch ist auf diese Weise jeder verpflichtet, sich um studentische Belange zu kümmern. Im Allgemeinen klappt das ganz gut. Feste Sprechstunden gibt es nur in wenigen Fällen. Meist steht die Tür offen. Wer ein Problem hat, tritt ein.

Das Modulsystem, nach dem fast alle Kurse zu festen Zeiten in Blöcken angeboten werden, hat gewisse Vorteile, sofern es konsequent eingehalten wird: Terminüberschneidungen werden weitgehend vermieden.

In den Kursen wird deutlich mehr Wert auf Essays gelegt, selbst in naturwissenschaftlichen Fächern. Neu war für mich die Aufgabe, in Gruppenarbeit ein Poster zu gestalten. Eine spannende Sache, denn man lernt viel über die Präsentation wissenschaftlicher Themen. Ungewohnt ist es, über jeden Kurs eine Klausur schreiben zu müssen, die zu mindestens zwei Dritteln in die Endnote einfließt.

Ein Nachteil des britischen Systems ist vielleicht die (zu) große Wahlfreiheit an Kursen. Am Beispiel Biologie bemängelt Chris Wilcock, ein anerkannter Blütenbiologe: "Das Grundwissen vieler Studenten in traditionellen Fachgebieten wie Systematik und Morphologie ist oft geringer als das von Studierenden anderer europäischer Länder. Das liegt zum einen daran, dass wir "attraktive" Gebiete unterrichten müssen, um Studenten für unsere Kurse zu interessieren. Allerdings gibt es auch immer weniger Dozenten, die in den klassischen Fachrichtungen ausgebildet sind." Hinzu kommt, dass das Studium mit vier (in England drei) Jahren meist kürzer ist als in Deutschland.

Gleichwohl kann es nur von Vorteil sein, eine andere Art des wissenschaftlichen Unterrichtens kennenzulernen. Doch nur wenige machen davon Gebrauch. Dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden zufolge nahmen von 1,68 Millionen deutscher Studierender, die im Wintersemester 1996/97 eingeschrieben waren, ungefähr 43 000 die Chance wahr, ganz oder teilweise im Ausland zu studieren - gerade einmal 2,6 Prozent. 8600 von ihnen entschieden sich für das Vereinigte Königreich. 1997/98 waren es laut British Council immerhin schon 12 000. Ein Trend, der hoffen lässt?

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 22.09.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 23.09.1999

 

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