Von Ulrich Ammon
„Die Sprache folgt dem Handel“, lautet eine Regel, mit der die weltweite Ausbreitung des Englischen im 19. Jahrhundert erklärt wird. So richtig sie scheint, so falsch ist sie, oder zumindest nicht allgemein gültig. Sonst müssten die deutsche Sprache in Frankreich und die französische in Deutschland blühen, denn für beide Länder ist das jeweils andere Land wichtigster Handelspartner. Das Gegenteil ist der Fall. Auch die Nachbarschaftslage, oft als Anreiz zum Sprachlernen beschworen, fruchtet nicht. So sperren sich Elternverbände gegen Pläne der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan (CDU), im badischen Grenzgebiet zu Frankreich das Französische statt des Englischen als Grundschul-Fremdsprache einzuführen. Den über beiden Sprachen liegenden Schatten versuchte eine Konferenz des Goethe-Instituts in Bordeaux zu umreißen und womöglich zu bannen: „L’Europe parlera-t-elle anglais demain?“ (Spricht Europa morgen Englisch?)Menetekelhaft schwebte über den um Zuversicht ringenden internationalen Referenten und zahlreichen Teilnehmern der Ausspruch des vormaligen französischen Kultusministers Claude Allègre, die Franzosen sollten aufhören, das Englische als Fremdsprache zu betrachten, den sie sich — nach den Lernerzahlen zu urteilen — zu Herzen genommen haben. Inzwischen lernen alle französischen Schüler auf der Sekundarstufe Englisch. Dagegen sind im Fach Deutsch die Schülerzahlen kontinuierlich geschrumpft: seit 1980 als erste Fremdsprache von 13 auf neun Prozent und als zweite Fremdsprache von 35 auf 18 Prozent. Nur Spanisch verzeichnet auch im Schatten des Englischen noch Zuwächse.
Werbekampagnen der Deutschlehrer und der „Association par la défence de l’enseignement de l’allemand“ (Verein für die Verteidigung des Deutschunterrichts) oder an den Schulen verteilte Broschüren mit Titeln wie „L’allemand, une clé pour l’avenir“ (Deutsch, ein Schlüssel zur Zukunft) scheinen wirkungslos. Auch das Goethe-Institut wirbt nach Kräften. Dennoch sieht sich Jochen Neuberger, Leiter des Instituts von Bordeaux, gezwungen, in zwei Jahren alle Deutschkurse einzustellen. Maßgeblicher Grund ist die vom Sparzwang diktierte Auflage kostendeckender Spracharbeit. Daher müssen jedem Deutschlerner 2000 Francs pro Halbjahreskurs berechnet werden, was bei einer dahinkümmernden Motivation schlicht unrealistisch ist, Werbeappelle hin oder her.
Die vom Sparen besessenen deutschen Kulturpolitiker leiden — so viel wurde auf der Konferenz deutlich — unter doppelter Kurzsichtigkeit. Sie sehen einerseits nicht, dass das Unterrichten der eigenen Sprache an andere eine Investition ist, die sich amortisiert. Franzosen mit Deutschkenntnissen pflegen später intensivere, auch wirtschaftliche Kontakte zu den deutschsprachigen Ländern als ihre deutschunkundigen Landsleute. Die Nichtbezuschussung des Deutschlernens von deutscher Seite ist daher nichts anderes als verweigerte Investitionshilfe zum eigenen Schaden. Andererseits ist die Stellung der deutschen Sprache speziell in Frankreich für ihre Zukunft von besonderer Bedeutung. Damit Deutsch in der Welt attraktive Fremdsprache bleibt, muss es vor allem in Europa — wo sonst? — seinen Platz halten. Es braucht die Funktion einer europäischen Verkehrssprache, wenigstens in bescheidenem Maß, und ebenso als Arbeitssprache der EU-Institutionen. Wenn es sie einbüßt, lohnt es sich wirklich kaum noch, Deutsch zu lernen. Die Folgen für Deutschland und seine internationalen Kontakte wären gravierend.
Da Frankreich sich sprachlich in ähnlicher Lage befindet, wenngleich vielleicht weniger dramatisch, sollten beide Länder ein umfassendes strategisches Sprachenbündnis erwägen (für die EU-Organe existiert es in Ansätzen, ohne gut zu funktionieren, seit dem 27. Mai 2000). Dieses könnte auch die beiderseitige Freundschaft neu beflügeln.
Ulrich Ammon ist Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg.