Paris war gut fürs Selbstbewusstsein

«Die wollten alles ganz genau wissen», erinnert sich Urban Reichhold. Als sich der heute 26-Jährige 1998 um ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) bewarb, löcherte ihn die Auswahlkommission mit Fragen. Warum er nach Frankreich wolle. Weshalb er gerade diese Universität ausgewählt habe. Was konkret er forschen wolle.

Hätte er sich nicht schon während seines Grundstudiums der Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin mit dem Institut d'Etudes Politiques in Paris beschäftigt, wäre er wohl in die Bredouille gekommen. Schließlich musste er sich unter rund 100 Bewerbern besonders empfehlen. Von Kommilitonen, die sagten, sie wollten mal eben so ins Ausland, hörte er, dass sie beim Auswahlverfahren durchfielen. Sich spontan für ein Auslandsstudium zu entscheiden, ist kaum möglich, wenn es zu einem Erfolg werden soll.

Ob die HU seine Studienleistungen in Paris anerkennen wird, wollte Urban nicht dem Zufall überlassen - und versicherte sich beim Akademischen Auslandsamt. Fünf Seminarscheine hatte er nach seiner Rückkehr aus Paris im Gepäck. Alle fünf erkannten die Berliner an. So musste er, wieder daheim an der Spree, nur noch ein Hauptseminar absolvieren.

Dass sein Auslandsjahr so produktiv ausfiel, ist dem französischen Universitätssystem zu verdanken. Mit Tests, kurzen Hausarbeiten und Klausuren, die den kompletten Seminarstoff abfragten, hielt man die Gaststudenten aus dem Ausland auf Trab. Sie wurden in separaten Kursen unterrichtet. Französische Studenten waren dort kaum zu finden.

Das Studium füllte den größten Teil des Tages aus, so dass ans Jobben nebenher nicht zu denken war. Denn auch wenn Urban mit einem Stipendium von 600 Mark pro Monat im Vergleich zu Erasmus-Studenten noch gut dastand, reichte das in der französischen Hauptstadt zum Leben nicht aus. Ohne den elterlichen Zuschuss hätte er sich den Aufenthalt nicht leisten können, den der DAAD ein Jahr zuvor noch mit 900 Mark bezuschusst hatte.

«Ein Auslandsaufenthalt lohnt sich auf alle Fälle», sagt der HU-Student, der jetzt nochmals seine Koffer packt, um ein Semester in Madrid zu verbringen. Auch wenn ihm vieles am französischen Studium nicht gefiel und er nach seiner Rückkehr nach Berlin einige Monate brauchte, um sich wieder zu akklimatisieren, will er nicht missen, was ihm das Jahr am Institut d'Etudes Politiques einbrachte. Er lernte eine andere, mehr praxis- und berufsorientierte akademische Kultur kennen und wurde, indem er sich in einer fremden Stadt behauptete, auch ein Stück selbstbewusster. Urban Reichhold ist sich sicher, dass sein Auslandsjahr sich im Lebenslauf gut machen wird und ihm bei Bewerbungen Pluspunkte verschafft. Auch wenn daraus noch keine beruflichen Perspektiven erwachsen sind.hcw

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